Der Pädagoge
Vor einiger Zeit bot mir der Vertreter eines großen Lehrmittelverlages eine Karte von
"Eurasien" an. Die Karte war in der Darstellung sehr schön, und ich habe sie
für meine Schule erworben, obwohl ich dem Vertreter sagen mußte, ich würde sie erst
ganz bejahren können, wenn sie durch den Namen "Asiopa" den wirklichen
Größenverhältnissen der beiden Kontinente entspricht, denn Globus und Weltkarte zeigen,
daß Europa eigentlich nur eine Halbinsel Asiens ist. Dabei wurde mir deutlich, wie sehr
wir entgegen aller in unserer Epoche eingetretenen politischen und ökonomischen
Veränderungen am Altgewohnten und Überlieferten festhalten, in der Geographie wie auf
allen anderen Gebieten.
Im "Diercke Weltatlas" nehmen Deutschland und Europa in verhältnismäßig
großmaßstäblichen Darstellungen noch mehr als die erste Hälfte des Gesamtumfangs ein.
Das ist bei Kartenwerken üblich und verständlich, und es wäre dagegen auch nichts
einzuwenden, wenn dieser Atlas nicht als "Weltatlas" bezeichnet würde, sondern
etwa unter dem Namen "Deutschland in der Welt" veröffentlicht würde. Es ist
bewährter Brauch des Geographie Unterrichts, den Schüler von seiner engeren Heimat
allmählich zur Kenntnis der ganzen Welt zu führen. Am Ende dieses Unterrichts muß dann
aber ein Atlas stehen, der allen Ländern der Erde und allen Kontinenten den gleichen Raum
zuteilt, sie paritätisch zur Anschauung bringt, ein wirklicher "Weltatlas"
also.
Solange der heute noch gebräuchliche Europazentrische oder sogar Deutschlandzentrische
Geographie Unterricht unsere Lehrpläne und Atlanten prägt, gibt es für den Schüler wie
für den Lehrer nur ein Mittel, um Stellung und Gewicht des eigenen Landes und Kontinents
in der Welt richtig zuzuordnen:
Die Erdkarte. Würden unsere Erdkarten ein zutreffendes Bild der Erdoberfläche geben, so
wäre damit die Möglichkeit gegeben, den von unseren Atlanten und Lehrplänen noch immer
intendierten europazentrischen Gesichtspunkt unseres Weltbildes zu korrigieren.
Tatsächlich zeigen aber unsere Erdkarten in den Schulatlanten ein falsches Bild der Erde,
sie bestätigen und vertiefen beim Schüler dessen europazentrisches Weltbild.
Unsere Vorstellung von Größe und Lage der Länder und Kontinente ist noch immer von der
Mercator-Karte geprägt, die unser (auf dem nördlichsten Viertel der Erde gelegenes) Land
in die Mitte der Welt rückte und ganz Europa viel größer darstellte als die von
farbigen Völkern bewohnten Länder und Kontinente. Die in den letzten Jahrzehnten an die
Stelle der Mercator-Karte getretenen Erdkarten (es sind dies insbesondere die vom
Fernsehen und in Nachschlagewerken verwendete van der Grinten-Projektion, sowie die von
fast allen Schulatlanten verbreitete Winkel-Projektion) sind ebensowenig flächentreu wie
die Mercator-Karte. Sie mildern lediglich deren gröbste Flächenverzerrungen ab,
zerstören dafür aber die entscheidende Qualität der Mercator-Karte: Ihr rechtwinkliges
Kartennetz. Diese Rechtschnittigkeit gab der Mercator-Karte nicht nur ihr schönes klares
Kartenbild, sie führte auch zur richtigen Darstellung der Ost-West Richtung (wodurch alle
auf einer Waagerechten gelegenen Orte als der gleichen Klimalage zugehörig erkannt
werden); und zu der nicht weniger wichtigen, richtigen Darstellung der Nord-Süd Richtung
(die Grundlage jeder unmittelbaren Orientierung auf der Karte ist). Die Kartographen
nennen diese beiden Kartenqualitäten der Mercator-Karte "Lagetreue" und
"Achstreue".
Wegen ihres Fehlens hat unser bester Schulatlas, der von dem führenden Kartographen
unserer Epoche, Eduard Imhof, geschaffene "Schweizerische Mittelschulatlas", die
in Deutschland jetzt verbreiteten Erdkarten von Winkel und van der Grinten überhaupt
nicht verwendet. Statt dessen finden sich darin von den 18 Erdkarten neun Karten in der
alten Mercatorprojektion und neun Karten in einer flächentreuen Projektion, auf der die
Nord-Süd Richtung nur auf dem Mittelmeridian stimmt und auch die Ost-West Richtung nicht
auf einer waagerechten Geraden steht, also verschoben ist. Professor Imhof hat für jede
einzelne Erdkarte die Projektion gewählt, die den darzustellenden Karteninhalt am
wenigsten verfälschte:
Wo Flächentreue unerläßlich war, hat er die Verfälschung von Nord-Süd Richtung und
Ost-West Richtung in Kauf genommen. Es sind dies die Karten über Weltwirtschaft und
Welthandel, über die Verteilung der Völker und die Bevölkerungsdichte, über
Bodenschätze, Getreide und Industriepflanzen, über Nahrungsmittel und Genußmittel,
sowie über die religiöse und politische Gliederung der Erde. Alle übrigen Karten des
"Schweizerischen Mittelschulatlas" sind in der Mercatorprojektion ausgeführt,
deren lagetreues und achstreues Kartenbild unserer herkömmlichen Vorstellung der Erde
entgegenkommt.
Eduard Imhof hat also für jede einzelne Darstellung der Erdoberfläche die kartographisch
am wenigsten schädliche Verzerrung gewählt. Doch hat diese Lösung vom pädagogischen
Standpunkt aus einen entscheidenden Nachteil: Der Schüler erhält statt eines
geographischen Weltbildes zwei. Er wird durch die beiden, im "Schweizerischen
Mittelschulatlas" auch gelegentlich auf der gleichen Seite unmittelbar
nebeneinanderstehenden, Erdkarten verwirrt. Schaut er die Karten genauer an, so bemerkt
er, daß auf den neun Mercator-Karten zwei Drittel der Kartenfläche zur Darstellung der
nördlichen Erdhälfte genutzt werden, für die südliche Erdhälfte also nur ein
Kartendrittel bleibt; auf den neun flächentreuen Erdkarten steht der Äquator richtig in
der Kartenmitte. Auch ist die Gestalt der Länder und Kontinente auf den beiden
Kartentypen ganz verschieden: Klar und schön gegliedert auf der Mercator-Karte, seitlich
verquetscht an den Rändern der flächentreuen Karte. Vor allem geben die Karten
verschiedene, einander kraß widersprechende Aussagen über die Größenverhältnisse der
Länder und Kontinente. Vergleicht der Schüler etwa auf den neun Mercator-Karten
Skandinavien mit der arabischen Halbinsel, so scheint Skandinavien größer zu sein die
neuen flächentreuen Karten zeigen ihm aber Arabien mehr als dreimal so groß wie
Skandinavien. Blickt der Schüler dann wieder auf die Mercator-Karte, so sieht er, daß
Grönland mehr als dreimal so groß ist wie Australien blickt er auf die flächentreue
Karte, so sieht er, daß gerade umgekehrt Australien mehr als dreimal so groß ist wie
Grönland. Der auf diese Weise völlig verwirrte Schüler erfährt weder aus der
Kartenunterschrift noch sonst irgendwo im Atlas, ob nun Größe, Lage, Himmelsrichtung auf
dieser oder jener Erdkarte stimmen oder verzerrt sind.
Zu dieser Verwirrung des Schülers kommt die Schwierigkeit der unterrichtlichen Verwendung
derartiger sich gegenseitig widersprechender Kartenprojektionen. Die gedächtnismäßige
Aneignung von Karten wird bekanntlich wesentlich durch ihre zeichnerische Nachbildung
gefördert. Wie aber soll nun der Schüler die Erde zeichnen? wie sie in den neuen
Mercator-Karten dargestellt ist (also mit richtigen Himmelsrichtungen aber falschen
Größenverhältnissen) oder nach dem Muster der neuen flächentreuen Karten (also mit
falschen Himmelsrichtungen, aber richtigen Größenverhältnissen)? Auch der
Geographielehrer ist überfordert, wenn er zwischen diesen beiden Übeln wählen muß. Und
da hilft auch nicht die kleine Projektionslehre, die sich in den Deckblättern vieler
Atlanten findet. Denn weder der Geographielehrer noch der Schüler hat heute genügend
Kenntnisse der sphärischen Trigonometrie, um die Grundgesetze der Projektionslehre
begreifen zu können. Außerdem würde ihm eine solche Kenntnis auch wenig nützen, weil
die Projektionsweisen der Karten in den Schulatlanten (auch in dem vorbildlichen
"Schweizerischen Mittelschulatlas") fast niemals genannt sind, und weil es in
jedem Atlas einige Dutzend verschiedener Projektionsweisen gibt, die zu kennen ein
kartographisches Fachstudium voraussetzt.
Es muß anerkannt werden, daß Eduard Imhof wahrscheinlich die optimale Lösung des
schwierigen Problems der Projektionsauswahl für die Erdkarten zur Zeit des Erscheinens
seines "Schweizerischen Mittelschulatlas" gefunden hatte (die neueste Ausgabe
der vom Klett-Verlage herausgegebenen Weltkunde (5) für die Schulen Baden-Württembergs
enthält dreimal die Mercator-Karte und dagegen nur eine flächentreue Erdkarte).
Inzwischen aber hat der deutsche Historiker Arno Peters seine Projektion veröffentlicht,
die den Kartographen wie den Pädagogen und den Schüler aus dieser Qual einer Wahl
zwischen unzulänglichen Erdkarten erlöst. Die Peters-Karte vereinigt die richtige
Wiedergabe der Größenverhältnisse (Flächentreue) mit der richtigen Wiedergabe der
Ost-West Richtung (Lagetreue) und der richtigen Wiedergabe der Nord-Süd Richtung
(Achstreue). Damit ist das Problem der Kartenprojektion für den Pädagogen gelöst, denn
die Peters-Karte hat alle Qualitäten, die in einer verebneten Abbildung der
Erdoberfläche überhaupt enthalten sein können.
Die Peters-Karte ist in ihrem völlig neuen Projektionsprinzip zudem ohne Kenntnisse der
sphärischen Trigonometrie verständlich, ihre auf dem von Arno Peters geschaffenen
Dezimal-Gradnetz beruhende Konstruktion kann jedem Schüler einsichtig gemacht werden. Sie
ist auch kinderleicht zu zeichnen, weil ihr rechtschnittiges Kartennetz mit Bleistift und
Lineal vom Schüler übertragen und mit arithmetischen Grundkenntnissen sogar von ihm
selbst konstruiert werden kann.
Dabei ist die Peters-Karte für unser geographisches Weltbild das entscheidende Korrektiv
unserer immer noch Europazentrischen, Deutschlandzentrischen Vorstellungen.
Aus allen diesen Gründen befürworte ich die Verwendung der Peters-Karte im Unterricht,
in der Atlaskartographie und im Fernsehen, dessen bewußtseinsbildende Kraft die Schule
heute in ihre pädagogischen Überlegungen einbeziehen muß.
Unterschrift
(Professor Dr. Hermann Venedey)
Oberstudiendirektor
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Datum der letzten Aktualisierung: 25. Januar 2001