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Arno Peters

Raum und Zeit

Ihre paritätische Darstellung als unabdingbare Prämisse eines wissenschaftlichen Weltbildes

Vorgetragen beim Symposium der UN-Universität "GEO_CULTURAL VISIONS OF THE WORLD" Cambridge, 29. März 1982

Universitätsverlag Carinthia, Klagenfurt

Seit es Menschen gibt, haben sie ein Bild der Welt - genau gesagt: Ein Bild ihrer Welt, also jenes Teiles der Welt, in dem sie leben.

Schon früh begannen die Menschen, sich Orientierungshilfen zu schaffen. Lange ehe die Schrift aufkam, gab es Aufzeichnungen von Landschaften, Wegen und Wasserplätzen, die gewiß dem frühen Menschen dazu dienten, zu verlassenen Platzen zurückzukehren, sich besser zurechtzufinden in seiner Welt. Mit den Landkarten wurde das frühe Weltbild weitergegeben, von Generation zu Generation - und es weitete sich aus. Immer größer wurde die eigene kleine Welt - bis der Mensch irgendwo an unüberwindliche Grenzmarken stieß: Flüsse, Gebirge, Sümpfe, Meere. Aber auch diese Hindernisse wurden besiegt, und so weitete sich das Weltbild mehr und mehr, bis es schließlich vor 500 Jahren Amerika, vor 250 Jahren Australien und in unserem Jahrhundert als sechsten Kontinent die Antarktis einschloß.

Grundsätzlich gibt es keinen Zweifel, daß die ganze Erde nun zu unserer Welt gehört, Gegenstand des Weltbildes für die Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist die ganze Erde.

Aber liegt unserem geographischen Weltbild wirklich ein echtes Bild der ganzen Erde zugrunde?

Betrachten wir zunächst die Erdkarte: In der Welt vorherrschend ist noch immer die vor über 400 Jahren von Gerhard Kremer geschaffene Mercatorkarte. Sie stellt die Erde rechtwinklig und anschaulich dar. Aber sie verzerrt die wirklichen Größenverhältnisse: Auf ihr ist Skandinavien größer abgebildet als das in Wahrheit dreimal so große Indien, Europa sieht größer aus als das tatsächlich fast doppelt so große Südamerika, und die Sowjetunion ist über dreimal so groß abgebildet wie das in Wirklichkeit wesentlich größere Afrika.

Zwei Drittel der Mercatorkarte sind der Darstellung der nördlichen Erdhälfte vorbehalten, die südliche Erdhälfte ist auf einem Kartendrittel abgebildet. Durch diese Verzerrung von Lagen und Größen liegt Europa übermäßig groß im optischen Mittelpunkt der Erdkarte - und ist damit gedanklich beherrschend in die Mitte unseres geographischen Weltbildes gerückt.

Mit der Epoche der Europäisierung der Erde entstanden, sollte es rechtens mit dem Ende dieser Epoche untergehen. Aber das europazentrische Weltbild, wie es in der Mercatorkarte seine klassische Ausprägung fand, lebt fort. Wie die koloniale Ausbeutung der farbigen Völker nach Aufgabe der politischen Weltherrschaft Europas durch die modernen Wirtschaftsmechanismen fortdauert, lebt das europazentrische Kartenbild der Erde abgemildert weiter. Neben die Mercatorkarte traten in den letzten Jahrzehnten zunehmend andere Erdkarten-Projektionen: Mollweide, Aithoff, van der Grinten, Robinson, Winkel - aber keine von ihnen gibt die Länder und Kontinente der Erde in ihren echten Dimensionen wieder. Schlimmer noch: Alle diese neuen Karten milderten zwar die schrecklichen Verzerrungen der Größenverhältnisse ab, aber sie gaben dafür wesentliche andere Kartenqualitäten preis, die der Mercatorkarte zu eigen waren: Norden liegt nicht mehr über Süden auf diesen neueren Karten, die sich alle durch gerundete Gradnetze vom rechtwinkeligen Kartennetz der Mercatorkarte unangenehm unterscheiden (wodurch die Orientierung erschwert ist), und Orte gleicher Klimalagen liegen nicht mehr, wie bei Mercator, auf einer parallel zum Äquator verlaufenden Geraden (wodurch auch die Ost-West-Richtung nicht mehr richtig ist. Übrigens sind alle diese neueren Kartenprojektionen mindestens 50 Jahre alt, stammen also noch aus der Epoche europäischer Weltherrschaft. Das europazentrische geographische Weltbild war bei ihnen also noch in voller Übereinstimmung mit der Weltordnung. Und: Im Ringen um ein neues Weltbild erwiesen sich diese unsere Erdkarten in zweifacher Weise als retardierende Elemente: Indem die europäischen Kartenmacher sich zunehmend von der Mercatorkarte zu diesen neueren Erdkarten hinwandten und damit die schlimmsten Flächenverzerrungen der Mercatorkarte verminderten, dokumentieren sie ihre Offenheit für eine Überwindung des europazentrischen Weltbildes - und: Sie konnten gleichzeitig die Mercatorkarte daneben beibehalten, da für alle klimabezogenen und zeitbezogenen Karten die neueren Erdkarten gar nicht verwendbar waren.

Statt ein neues, dem Weltbilde der nachkolonialen Epoche entsprechendes Kartenbild der Erde zu schaffen, auf dem jedes Land seiner wahren Größe entsprechend dargestellt ist, erschöpften sich die Bemühungen der Kartographen im Abwägen von Nachteilen der Mercatorkarte und der Nach-Mercatorkarten. Durch diese, die Schaffung einer postkolonialen Erdkarte ersetzenden Diskussionen wurde praktisch das von der Mercatorkarte geprägte und von den neueren Karten in abgemilderter Form erhaltene europazentrische geographische Weltbild bis heute fortgeschrieben.

Hier gilt es noch dies festzuhalten: Die Mercator-Projektion war wie die ihr Weltbild fortschreibenden neueren Projektionen von Mollweide, Aithoff, van der Grinten, Robinson, Winkel vom mathematischen Standpunkt aus unangreifbar. Sie war exakt berechnet, und auf Grund des veröffentlichten Konstruktionsprinzips konnte sich auch jedermann ihre Verzerrungen ausrechnen und gedanklich korrigieren. Das gleiche galt für die durch Preisgabe wichtiger Qualitäten der Mercatorkarte in der Flächenverzerrung abgemilderten neueren Erdkarten. Alle diese, unser europazentrisches Weltbild bis heute fortschreibenden Karten waren also nicht auf Grund mangelnder Exaktheit unhaltbar - es fehlte ihnen aber diese eine Qualität: Die paritätische Darstellung des Raumes.

Die Erkenntnis, daß dieser Mangel eine Erdkarte als Grundlage eines wissenschaftlichen Weltbildes disqualifiziert, stand am Anfang meiner Überlegungen, als ich mich vor gut einem Jahrzehnt mit der Frage beschäftigte, wie der europazentrische Charakter unseres Weltbildes nach unserem Eintritt in die nachkoloniale Epoche von der geographischen Seite her zu überwinden sei. Dabei kam ich zu folgendem Ergebnis: Unsere Epoche wird, über alles Trennende hinweg, allgemein als das Zeitalter der Wissenschaft bezeichnet. Die Nützlichkeit der Wissenschaft für Wohlstand, Gesundheit und Bequemlichkeit der Menschen hat dazu geführt, daß die Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Weltbildes heute unbestritten ist. Da aber auch die alten, das falsche Weltbild fortschreibenden Karten exakt berechnet waren, mußte es einen anderen Wesenszug der Wissenschaft geben, der ihnen fehlte. So stieß ich auf die Objektivität, die neben Systematik und Exaktheit unverzichtbares Merkmal der Wissenschaftlichkeit ist.

Eine Untersuchung der bisherigen Erdkarten zeigte, daß sie alle durch ihre Subjektivität einem auf Objektivität gegründeten Wissenschaftsanspruch widersprechen.

Die älteste erhaltene Karte ist fast 3000 Jahre alt. Sie entstand in Babylon, und dieser Stadtstaat steht auch in ihrem Mittelpunkt. Streng genommen ist diese Karte nur eine Karte von Mesopotamien mit etwas Vorderasien drum herum, aber in der Geschichte der Weltkarten steht am Anfang die Abbildung von verhältnismäßig kleinen Gebieten. Und dieses kleine Stück der Erdoberfläche, das auf dieser Karte dargestellt ist, machte die Welt der Babylonier dieser Zeit aus.

Die wenig später entstandene Weltkarte des Griechen Hekataios zeigt Europa von Spanien bis Kleinasien und Vorderasien bis Indien und Nordafrika. In den Mittelpunkt seiner Weltkarte stellte Hekataios seine Heimatstadt Milet in Kleinasien. Der im ägyptischen Alexandria lebende Ptolemäus stellte Ägypten in den Mittelpunkt seiner Weltkarte, und der Araber Al Idrisi tausend Jahre später Mohammeds Geburtsstadt Mekka. Die christlichen Erdkarten des Mittelalters, deren Weltbild gegenüber diesen Karten meist noch enger war, stellten Jerusalem und Palästina in die Kartenmitte. Auch auf der 1512 von Marini gezeichneten Erdkarte, die schon Nord- und Südamerikas Küsten zeigt, ist noch das Heilige Land (Palästina) Mittelpunkt der Welt. Aber 57 Jahre später ist mit der Mercatorkarte das stark vergrößerte Europa in die Mitte der Erde gerückt. Dieses europazentrische Weltbild verbreitete sich mit der Ausdehnung der europäischen Macht über die ganze Erde und prägte für Jahrhunderte das Weltbild aller Menschen. Läßt man die Abmilderungen der schlimmsten Verzerrungen der Mercatorkarte durch die neueren Erdkarten außer Betracht, so ist das geographische Weltbild des Menschen bis heute davon geprägt.

Wenn also der eigene Lebensraum des Menschen seit alters her selbstverständlich in den Mittelpunkt der Karten gestellt wurde, die das Weltbild der Menschen geographisch zum Ausdruck brachten, so kann man darin nicht eine spezifisch europäische Überheblichkeit erblicken, und man würde Mercator Unrecht tun, wenn man ihm dabei ideologische Absichten unterstellen würde. Der Mensch gruppierte nun einmal in ganz unbewußter Subjektivität die übrige Welt um seine eigene Heimat. Das entsprach auch der ursprünglichen Erschließung der Welt, die ja stets damit begann, daß die Umgebung in alle vier Himmelsrichtungen ungefähr gleich weit erschlossen und so in die eigene Welt einbezogen wurde. Bedenkt man, daß bis vor 500 Jahren die Erdkarten mit dem weitesten Weltbild höchstens 8 bis 10 Prozent der Erdoberfläche zur Darstellung brachten, so ist diese Überbetonung der eigenen Heimat der natürliche Ausdruck des subjektiven Weltbildes vergangener Epochen. Auch China verstand sich in dieser Zeit in naiver Selbstbezogenheit als das "Reich der Mitte".

Mit dem Zeitalter der Entdeckungen verfünffachte sich innerhalb eines halben Jahrhunderts die Kenntnis des Menschen von der Erdoberfläche - sein Weltbild umspannte nun die halbe Erde und weitete sich von Jahr zu Jahr aus. Die ganze Erdoberfläche aber wurde dem Menschen erst in unserem Jahrhundert erschlossen, ein sie umfassendes Weltbild ist deshalb erst in unserer Epoche möglich geworden. Aber: Nachdem der Mensch nun die Erde in ihrer ganzen Erstreckung kennt, ist es auch unerläßlich, sie auf der sein Weltbild prägenden Erdkarte ganz zur Anschauung zu bringen. Bedenkt man, daß die Mercatorkarte durch ihr Konstruktionsprinzip nicht in der Lage ist, die ganze Erde bis zu den Polen darzustellen (und daher den jetzt entdeckten viertgrößten Kontinent, Antarktika, nicht abbilden kann), bleibt es unverständlich, daß diese Karte sich bis in unsere Tage behauptete und so das Weltbild des Menschen bis heute prägt.

Indes: Die Mercatorkarte ist nicht nur durch ihre senkrechte Darstellung der Nord-Süd-Richtung (Achstreue) und durch die wirklichkeitsgetreue Darstellung der Klimalage (Lagetreue) den neueren Karten überlegen, sie ist es auch aus ästhetischen Gründen: Durch ihre den Abmessungen des Goldenen Schnitts nahekommenden Proportionen und durch ihr schönes klares Kartenbild.

Wie Sie wissen, habe ich vor fast zehn Jahren eine Erdkarte fertiggestellt, die alle diese Qualitäten der Mercatorkarte erhält, dabei aber die Darstellung der ganzen Erdoberfläche ermöglicht und vor allem Länder, Kontinente und Meere in ihren wirklichen Größenverhältnissen zur Anschauung bringt. Durch diese paritätische Darstellung der ganzen Erdoberfläche ist die neue Weltkarte zum objektiven Abbild der Erde geworden und damit zur unabdingbaren Grundlage eines wissenschaftlichen Weltbildes.

Aber die Erdkarte prägt das geographische Weltbild des Menschen nicht allein. Karten von Teilen der Erdoberfläche ergänzen und vertiefen dieses Bild. Und diese Karten von Teilgebieten der Erdoberfläche in unseren Atlanten und auf unseren Wandkarten sind bis in unsere Tage nicht weniger subjektiv wie die an Mercators europazentrischem Weltbild orientierten Weltkarten. Frankreich erscheint auf unseren Teilkarten etwa ebenso groß wie das in Wirklichkeit doppelt so große Ägypten, England ebenso groß wie das in Wahrheit mehr als doppelt so große Madagaskar. Auch hier, bei den Teilkarten, geht der Mangel an Parität immer auf Kosten der außereuropäischen Gebiete, der Länder der Dritten Welt, wie man die politisch von europäischer Herrschaft befreiten Kolonialgebiete jetzt nennt.

Durch Verallgemeinerung meines Projektionsprinzips habe ich die Möglichkeit zur paritätischen Darstellung auch aller Teilkarten der Erde geschaffen; diese neuen Einzelkarten sind, wie die neue Erdkarte, flächentreu, achstreu und lagetreu, und sie minimieren dabei - wie die neue Erdkarte - die bei der Übertragung einer Kugeloberfläche auf die Kartenebene unvermeidlichen Formveränderungen.

Die paritätische Projektion ist die entscheidende Grundlage eines wissenschaftlichen Weltbildes. Aber: Es ist möglich, mit objektiven Erdkarten und Einzelkarten ein einseitiges, subjektives, unwissenschaftliches Weltbild zu schaffen. Denn für unser geographisches Weltbild ist noch etwas anderes von entscheidender Bedeutung: Die paritätische Darstellung unseres Lebensraumes, der Erde, in unseren Kartenwerken.

Denn die europazentrische Verzerrung der Welt wird durch den Aufbau unserer Atlanten bereits so stark vorgeprägt, daß auch eine paritätische Projektionsweise sie nur abmildern, nicht aber ihren subjektiven Charakter überwinden kann. So wird in unseren Atlanten etwa ein Land wie die Schweiz, das den Vorzug hat, in Mitteleuropa zu liegen, auf einer Doppelseite gezeigt, während zehnmal größere Länder (wie etwa Kamerun) auf einer Übersichtskarte von Afrika (Nordafrika) unter zwanzig anderen Ländern gesucht werden müssen. Und sogar ein zweihundertmal größeres Land wie Brasilien ist nicht auf einer eigenen Doppelseite dargestellt, sondern meist in zwei Hälften auf zwei Karten von Südamerika, die es sich mit einem weiteren Dutzend Staaten teilen muß.

Im Gegensatz zu den europäischen Ländern, die selbständige Subjekte einer individualisierenden Erdbetrachtung sind, werden die von farbigen Völkern bewohnten Länder so zu bloßen Objekten einer generalisierenden Geographie. Auch dieser, den subjektiven Charakter unseres geographischen Weltbildes mitprägende Mangel unserer Atlaswerke kann nur durch paritätische Darstellung behoben werden. Ohne sie kann unsere Vorstellung vorn Raume nicht den objektiven Charakter erhalten, der sie zur Grundlage eines wissenschaftlichen Weltbildes macht.

Diese Feststellung der Unabdingbarkeit paritätischer Darstellung der ganzen Erde bedeutet keine Absage an lokale Kartenwerke, sie bezieht sich allein auf Bücher, die durch ihre Selbstbezeichnung "Weltatlas" den Anspruch erheben, ein Bild der Welt zu geben, in der wir leben, der Erde. Ein Weltatlas muß die Erdoberfläche paritätisch zur Darstellung bringen. Daß es daneben auch Stadtkarten und Länderkarten geben kann, ist selbstverständlich. Daß es auch Atlasbände der Schweiz oder Frankreichs gibt oder europäische oder nordamerikanische Atlanten, die nichts anderes zur Darstellung bringen als ihr Land, ihren Kontinent, ist ebenso legitim wie die pädagogische Maxime, den jungen Menschen von seinem eigenen Dorfe, seiner Stadt aus allmählich weiter und weiter ausgreifen zu lassen mit seiner Kenntnis des Raumes. Aber am Ende muß dann das Bild der ganzen Erde stehen, und darin sind alle Länder und Kontinente paritätisch darzustellen.

Wenn es heute noch keinen Weltatlas gibt, der diese Forderung erfüllt, ist das nicht einfach Etikettenschwindel. Es ist schlimmer: Da alle Kartenwerke, die unter dem Namen "Weltatlas" erscheinen, heute nichts anderes sind als mit ein paar Karten fremder Kontinente und einer Erdkarte garnierte lokale Atlanten, also Pseudo-Weltatlanten, so müssen wir daraus den Schluß ziehen, daß unser geographisches Weltbild noch ganz subjektiv ist, noch nicht fortgeschritten ist zu einer objektiven Betrachtungsweise. Denn nur auf einer paritätischen Darstellung des Raumes kann ein objektives wissenschaftliches Weltbild wachsen.

Unser Weltbild wird aber nicht von unserer Raumvorstellung allein bestimmt. Nicht weniger bedeutsam ist unsere Zeitvorstellung. Wer vom Raume spricht, denkt an die Zeit, denn als Bedingung unserer Erfahrungswelt ist das eine ohne das andere nicht denkbar. Es gibt nichts für unser Weltbild erhebliches, was nicht zugleich dem Raum und der Zeit zugeordnet werden muß. Raum und Zeit sind also die Dimensionen, in denen menschliches Bewußtsein zu seiner Selbstvergewisserung gelangt, in denen Standortbestimmung sich vollzieht, das Weltbild entsteht, sich entwickelt. Obwohl physiologisch die Raumvorstellung im Althirn des Menschen beheimatet ist und die Zeitvorstellung im Neuhirn, wirken beide Vorstellungen als Koordinaten harmonisch zusammen. Das Bewußtsein des Werdens ist untrennbar mit dem stammesgeschichtlich älteren Bewußtsein des Seins so verschmolzen, daß das eine ohne das andere nicht mehr vollzogen wird. Alles Seiende wird vom Kulturmenschen unserer Epoche in seiner Gewordenheit begriffen, alles gleichzeitig oder nacheinander sich vollziehende Geschehen in seiner räumlichen Erstreckung.

Gilt die Forderung nach paritätischer Darstellung für die Zeit ebenso unmittelbar wie für die Darstellung des Raumes? Ist auch sie eine unabdingbare Prämisse für ein wissenschaftliches Weltbild? Da die Verzerrung der Zeit und ihre Auswirkung auf unser Weltbild weniger offenbar ist, bedarf es zur Beantwortung dieser Frage einer Untersuchung der Darstellungsweise der Zeit. Wie die Darstellung des menschlichen Lebensraumes (um den es bei der Herausbildung unseres Weltbildes zuerst geht) in die geographische Disziplin gehört, ist die Geschichte die für die Darstellung der Entwicklung des Menschen (also für seine Entfaltung in der Zeit) zuständige Wissenschaft.

Betrachten wir nun unsere Weltgeschichten, so stellen wir fest, daß die historische Zeit in ihnen nicht weniger verzerrt dargestellt ist wie der geographische Raum in unseren Weltatlanten.

Nehmen wir etwa die Propyläen-Weltgeschichte, die als Höhepunkt deutscher Weltgeschichtsschreibung gilt: Setzen wir traditionsgemäß den Beginn der Geschichte auf den Beginn der schriftlichen Überlieferung, also etwa auf das Jahr 3000 vor der Zeitwende, so füllt die Propyläen-Weltgeschichte die ersten zwei von ihren 10 Bänden mit der Zeit bis zum Ende Westroms, also mit rund 3500 Jahren Weltgeschichte. Die beiden folgenden Bände bringen die folgenden 1000 Jahre zur Darstellung, während die übrigen sechs Bände auf die Darstellung der letzten 500 Jahre gerichtet sind. Also: 10 Prozent der historischen Zeit werden in sechs Bänden dargestellt - 90 Prozent in den restlichen vier Bänden dieses Werkes. Und die Propyläen-Weltgeschichte stellt keine besondere Verzerrung der Zeit dar; wie sie sind alle unsere Weltgeschichten strukturiert. Betrachten wir etwa die ebenfalls zehnbändige Weltgeschichte, die von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegeben wurde und die sich im Vorwort als erste marxistische Weltgeschichte bezeichnet, so liegt der einzige Unterschied der Band-Einteilung darin, daß in den sechs letzten dieses (ebenfalls zehnbändigen) Werkes nur noch die letzten 45OJahre dargestellt sind. Die Verzerrung der historischen Zeit ist also unabhängig vom geschichtsphilosophischen Standort der Verfasser, fast eine selbstverständliche Vorgegebenheit, über die kaum noch nachgedacht wird. Und damit entlarven sich alle unsere Weltgeschichten als ebenso subjektiv, wie es unsere Weltatlanten sind. Denn die Verzerrung von Raum und Zeit, wie sie unserem Weltbild zu eigen ist, hat in der historischen Dimension den gleichen spezifischen Charakter wie in der geographischen. Immer ist es unser eigener Lebensraum, der überbewertet wird.

Art, Ausmaß und Bedeutung der Verzerrung der Zeit in unseren Weltgeschichten sind daran ablesbar, in welchem Maße sie die letzten 500 Jahre überbewerten, die Epoche der europäischen Weltherrschaft dehnen. Soweit die der Gegenwart nähere, unmittelbare Vergangenheit beim Menschen mehr Interesse findet als weiter zurückliegende Zeiten, verhindern Werke über die jüngste Vergangenheit ein wissenschaftliches Weltbild ebensowenig wie Geschichtswerke über die eigene Stadt, das eigene Land, den eigenen Kontinent. Aber solche Werke bedürfen in unserer Epoche, da die ganze Erde zum tausendfach ineinander verflochtenen Lebensraume geworden ist, der Einordnung in ein universales Geschichtsbild, für das die paritätische Darstellung der Zeit unabdingbar ist.

Denn für die übrigen rund 25 Geschichtskörper der Erde waren diese letzten 500 Jahre keine Blütezeit. Ihre geschichtlichen Höhepunkte verteilen sich auf die 4500 Jahre vorher: In den Flußtälern des Nil, des Euphrat und Trigris, des Indus und des Hoangho wuchsen vor 5000 Jahren die ersten Hochkulturen der Menschheit empor. Ihnen folgten Phönizier, Perser, Babylonier, Assyrer, Hethiter, lange ehe im Süden unseres Kontinentes die ersten europäischen Mittelmeerkulturen das fortentwickelten, was in Nordafrika und Südasien gewachsen war. Diese 600 Jahre griechisch-römischer Blüte werden aber in unseren Weltgeschichten so ausgedehnt, als begänne mit ihnen die menschliche Kultur. Nach ihrem Abklingen tritt dann wieder der historische Zeitraffer in Funktion: Das sogenannte Mittelalter ist bekanntlich dunkel - in Europa und also in unseren Geschichtswerken. Aber für die übrige Welt waren diese tausend Jahre eine Blütezeit, von China und Indien bis in die arabische Welt, zu den Kulturen der Inkassi, Mamas und Asteten in Amerika und zum mächtigen Aufloderndes bis heute größten Weltreiches der Geschichte, des Mongolenreiches. Ihre Epochen werden zusammengedrückt in unseren Weltgeschichten, die Jahre der Beherrschung aller übrigen Erdteile durch die Völker Europas aber dann in Zeitlupe dargestellt. Exakt: die 4500 Jahre vor dem Aufstieg Europas zur Weltmacht erhalten in den beiden untersuchten Weltgeschichten, die repräsentativ für alle stehen, durchschnittlich knapp eine halbe Seite pro Jahr, die 500 Jahre europäischer Kolonialherrschaft aber mehr als sieben Seiten pro Jahr.

Das historische Weltbild, das auf dieser krassen Verzerrung der Zeit beruht, ist subjektiv, es ist vorwissenschaftlich. Nach dem Ende der europäischen Weltherrschaft aber sollte auch unser historisches Weltbild objektiviert werden, damit es im Zeitalter der Wissenschaft neben einem durch paritätische Darstellung korrigierten geographischen Weltbild bestehen kann.

Nun ist die Korrektur des historischen Weltbildes schwieriger zu verwirklichen als die Korrektur des geographischen Weltbildes, weil die ohnehin gebräuchliche maßstäbliche Darstellung des Raumes in der Geographie die Forderung nach seiner paritätischen Wiedergabe nahelegt, ja in dem Maße unabweisbar macht, wie sich der Mensch der Subjektivität der heutigen Geographie bewußt wird.

Unser historisches Weltbild bedarf also zunächst der gleichen Transparenz, wie sie unserem geographischen Weltbild durch die ihm zugrundeliegende kartographische Darstellung zu eigen ist, damit seine Verzerrung erkennbar und korrigierbar wird. Auf der Suche nach einer solchen transparenten Darstellungsweise für die Geschichte stieß ich in meiner Studienzeit auf die Relativitätstheorie, die Raum und Zeit zu einem einheitlichen Kontinuum zusammenschweißte. Grundsätzlich vermochte ich diese Zuordnung der Zeit zu den Raumvorstellungen mitzuvollziehen, doch verschmolzen für mich die drei Dimensionen des Raumes zu einer einzigen Kategorie, wenn ihr die Zeit als zweite Kategorie zugeordnet wurde. Aus der naturwissenschaftlich schlüssigen "vierten Dimension" wurde die Zeit für die Erkenntnistheorie zur zweiten Dimension, der gegenüber der mathematisch als dreidimensional definierte Raum zur ersten Dimension verschmolz.

Der Gedanke, die Zeit in gleicher Weise darzustellen, wie der Raum auf unseren Karten dargestellt ist, ergab sich hieraus von selbst. An der Geographie orientiert, mußte diese Darstellung eine maßstäbliche sein. Nur auf diese Weise konnte man auch hoffen, ein Zeitgefühl zu erwecken, analog dem Raumgefühl, auf dessen Vorgegebenheit die ganze Geographie beruht. Denn niemand würde auf den Gedanken kommen, sich etwa die Lage zweier Städte zueinander dadurch zu veranschaulichen, daß er deren Längen- und Breitengrad auswendig lernt und dann diese Zahlen zueinander in seinem Kopfe in Beziehung setzt. Genau dies ist aber die Weise, in der geschichtlicher Stoff angeeignet wird. Die Geschichte befand sich also im Entwicklungsstande der Geographie vor der Erfindung der Landkarte.

So trug ich auf ein weißes Blatt Papier zunächst die Zeit als solche maßstäblich auf. Jedes Jahr bekam einen senkrechten Streifen von einem Zentimeter Breite (später aus drucktechnischen Gründen halbiert) und wurde unten mit der zugehörigen Jahreszahl gekennzeichnet. Nach links wurden die weiter zurückliegenden Jahre gestellt, nach rechts die der Gegenwart näheren. So schritt die Zeit von links nach rechts fort, wie es dem Zeitgefühl einer Rechtshänderkultur entspricht, deren Schrift von links nach rechts läuft. Die historischen Geschehnisse wurden dann den Jahren zugeordnet, in denen sie sich ereignet hatten, historische Persönlichkeiten über ihre Lebensdauer eingetragen. Die Zeitkarte war geboren. Durch diese räumliche Darstellung der Zeit war ein neues Mitteilungssystem gefunden, das sich wegen seiner didaktischen Vorzüge schnell durchsetzte. Man begriff Geschichte einfach im Anschauen ohne die schreckliche Litanei des Zahlenlernens, die das interessanteste Wissensgebiet zum langweiligsten Schulfach gemacht hatte. Vor allem war aber dadurch dem Einwand restaurativer Historiker und Pädagogen der Boden entzogen, daß eine Einbeziehung aller Weltkulturen das Gedächtnis überfordere - denn Geschichte wurde nun nicht mehr gelernt, sondern geschaut. Und es konnte die Geschichte aller Zeiten und Länder mit gleicher Sorgfalt und Gründlichkeit in dieses Zeitenband eingetragen werden, das, unter dem Namen "Synchronoptische Weltgeschichte" veröffentlicht, schnell zum Bestseller wurde.

Diese zunächst mechanisch erscheinende, streng paritätische Veranschaulichung historischer Abläufe verdeutlicht in idealer Weise die Dynamik der Geschichte. Durch die maßstabsgleiche Darstellung der historischen Zeit kommt auch die Dichte einzelner Epochen und Kulturen plastisch zur Anschauung.

Und: Füllt man das durch paritätische Darstellung die Zeit objektiv wiedergebende Zeitenband nur mit den Fakten und Persönlichkeiten unserer herkömmlichen Geschichtsschreibung, so steht der Überfülle in den beiden Zeitabschnitten europäischer Weltgeltung (400 v. bis 200 n. und 1500 n. bis zur Gegenwart) eine teils gähnende Leere der übrigen Zeitabschnitte gegenüber. Durchforscht man aber - wie es die Geographen mit den weißen Flächen der Weltkarte seit Jahrhunderten taten - diese weißen Flächen der Zeitkarte, so entdeckt man Epochen und Kulturen von ungeahnter geschichtlicher Bedeutung und Dichte. Nachdem mir durch die Erfindung der Zeitkarte diese Aufgabe zugefallen war, habe ich mich ihr über drei Jahrzehnte lang unterzogen - und die Arbeit führte zu folgenden Erkenntnissen:

1.Es gibt in der historischen Zeit keine leeren Räume.

2.Die 5000 Jahre überlieferte Geschichte sind angefüllt von den Blütezeiten unaufhaltsam wechselnder Geschichtskörper.

3.Die europäische Blütezeit der letzten 500 Jahre überragt - wie jede Blütezeit eines Geschichtskörpers - die übrigen nur partiell, ist also nicht allgemeiner Höhepunkt der menschlichen Kultur.

4. Die übrigen, mindestens zwanzig Geschichtskörper sind zu Unrecht von der bisherigen Geschichtsbetrachtung vernachlässigt.

Wir erkennen, daß auf dem Gebiete der Geschichte sich wiederholt, was wir auf dem Gebiete der Geographie erkannt haben: Die Verzerrung der Zeit ist spezifisch, sie ist europazentrisch - also ist auch unser historisches Weltbild subjektiv. Deshalb genügt es den objektiven Anforderungen eines wissenschaftlichen Weltbildes ebensowenig wie unser geographisches Weltbild.

Doch ist nicht alle bisherige Arbeit unserer Historiker überflüssig oder unwissenschaftlich gewesen. Im Gegenteil: Nur durch ihre jahrhundertelange geduldige Kleinarbeit sind aus sehr vielen Geschichtskörpern der Erde genügend Ereignisse und Persönlichkeiten überliefert, um die in unseren bisherigen Weltgeschichten leeren Zeiträume zu füllen. Die räumliche Darstellung der Zeit, auf deren Grundlage erst die längst als richtig erkannte Forderung nach paritätischer Würdigung aller Kulturen verwirklicht werden konnte, ist nun unabdingbare Prämisse unseres historischen Weltbildes in seiner Gesamtheit; historische Monographien sind dabei nicht ausgeschlossen, sondern vorausgesetzt.

Im Grunde ist es auch hier mit der Geschichte wie mit der Geographie: Karten von Ländern und Kontinenten sind ebenso legitim wie Stadtkarten oder Flurkarten.

Daneben aber muß es eine Erdkarte geben, auf der alle Länder und Kontinente in ihrer wirklichen Größe und in paritätischer Generalisierung wiedergegeben werden - denn nach der Erdkarte formt sich das Weltbild des Menschen. Und es formt sich nach dem Weltatlas, für den deshalb ebenfalls eine paritätische Darstellungsweise unverzichtbar ist.

Für die Geschichte wird immer die Einzeluntersuchung und in deren Ergebnis die Einzelabhandlung Grundlage aller Arbeiten sein. Aber das historische Weltbild formt sich nicht aus ihnen, sondern aus den Gesamtdarstellungen der Weltgeschichte. Nur für diese gilt die Forderung nach paritätischer Darstellung der Zeit, in der allein die Möglichkeit und auch eine gewisse Gewähr für die Verwirklichung einer objektiven Erfassung des historischen Geschehens liegt, wie es Grundlage eines wissenschaftlichen Weltbildes ist.

Wir haben erkannt, daß die paritätische Darstellung von Raum und Zeit in unserer Epoche geboten ist, daß es möglich ist, sie zu verwirklichen und daß ein Weltbild ohne diese Prämisse rein subjektiv also unwissenschaftlich ist. Aber die paritätische Darstellung von Raum und Zeit ist nur eine Prämisse eines wissenschaftlichen Weltbildes. Wir dürfen also ein Weltbild nicht schon dann als objektiv oder wissenschaftlich bezeichnen, wenn es diese Voraussetzungen erfüllt. Ein Weltbild ist auch unwissenschaftlich, wenn es nur eine Seite des Lebens beschreibt, wenn es also etwa die Geschichte mit der Geschichte von Krieg und Politik gleichsetzt und alle übrigen Seiten des Lebens vernachlässigt. Oder wenn nur das Schicksal der Reichen und Mächtigen dargestellt wird, nicht aber das der Armen und Ausgebeuteten.

Die Prämisse einer paritätischen Darstellung von Raum und Zeit bewahrt unser Weltbild also noch nicht vor Einseitigkeiten und Entstellungen. Sie ist indes auch nicht nur irgendeine Prämisse für dieses in unserer Epoche notwendige neue Weltbild: Wie Zeit und Raum die Dimensionen unseres Daseins sind, haben sie als Grundlagen unserer Selbstvergewisserung prägende, konstituierende Kraft für unser ganzes Weltbild. Ihre paritätische, objektive Darstellung ist daher der Schlüssel für die Wissenschaftlichkeit unseres Weltbildes.

Denn eine Verwirklichung dieser Prämisse überwindet notwendig die Einseitigkeit, Überheblichkeit und Enge unseres heutigen Weltbildes. Die paritätische Darstellung von Raum und Zeit öffnet unseren Blick auch für jene Seiten von Welt und Leben, die bisher darin fehlen oder nicht eine ihrer Bedeutung entsprechende Rolle spielen. Denn: Indem wir die außereuropäischen Länder und Völker mit ihrer Geschichte gleichrangig unserem Weltbilde einfügen, vollzieht sich ein wahrhaft revolutionäres Umdenken. Andere Völker und Kulturen haben andere Lebensformen, eine andere Rangordnung. Ihre volle Einbeziehung in unser Weltbild öffnet unseren Blick für die Maßstäbe und Werte jener neun Zehntel der Menschheit, die außerhalb Europas wohnen. Sie entzieht unserer Überheblichkeit den Boden, unserem Eigennutz das gute Gewissen.

So erhält unser Weltbild sein entscheidendes Korrektiv in dem Augenblick, in dem wir seiner so dringend bedürfen, um zu neuen Gesinnungen und Verhaltensweisen zu gelangen.

ISBN 3-85378-215-9 Alle Rechte vorbehalten © 1985 Universitätsverlag Carinthia Klagenfurt

Herstellung: Graphischer Betrieb Carinthia, Klagenfurt

 

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Datum der letzten Aktualisierung: 16. Februar 2001