ARNO PETERS
DIE PERSPEKTIVISCHE VERZERRUNG
VON RAUM UND ZEIT
IM HISTORISCH-GEOGRAPHISCHEN WELTBILDE DER GEGENWART
UND IHRE ÜBERWINDUNG
DURCH NEUE DARSTELLUNGSWEISEN
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UNIVERSUM-VERLAG MÜNCHEN-SOLLN
Wortlaut eines Vortrages, den der Verfasser am
6. Oktober 1967 auf Einladung der Historischen und der
Geographischen Klasse an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest gehalten
hat.
Raum und Zeit sind die Dimensionen, in denen sich das Leben auf der Erde entfaltet. Das Wissen um sie erhebt den Menschen über die übrige Natur und befähigt ihn zur bewußten Gestaltung seines Daseins. Sein Bild von der Welt ermöglicht es ihm, sich in ihr zurechtzufinden und zielstrebig zu handeln. Nur wenn sein Weltbild richtig ist, werden seine Verhaltensweisen sinnvoll und zweckmäßig sein.
Ist das Weltbild des Menschen unserer Tage richtig? Lassen Sie uns heute den Bereich unserer Raum-Zeit-Vorstellung untersuchen, in dem wir die Grundlage unseres gesamten Weltbildes erblicken müssen. Dabei erhebt sich zunächst die Frage nach der Übereinstimmung unseres Wissens hiervon mit den tatsächlichen Gegebenheiten, mit der Wirklichkeit.
Zu allen Zeiten hat menschliche Unzulänglichkeit und Nachlässigkeit, aber auch Schönfärberei und Täuschungsabsicht, unser historisch-geographisches Weltbild verfälscht. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die so entstandenen Irrtümer und Fehler auszumerzen, unser Weltbild richtigzustellen.
Aber würde unser Weltbild ein echtes sein, wenn alle uns bekannten Tatsachen voll mit der Wirklichkeit übereinstimmten? Keineswegs, denn es ist möglich, aus richtigen Tatsachen ein unrichtiges Weltbild zu fügen. Und allein~ diese weitaus gefährlichere Verfälschung unseres Weltbildes wollen wir heute betrachten. Sie beruht auf der Möglichkeit, durch VERZERRUNG DER PROPORTIONEN eine falsche Vorstellung der Wirklichkeit hervorzurufen. PERSPEKTIVISCH muß diese Verzerrung genannt werden, wenn die Welt von einem bestimmten Punkte aus gesehen wird, wenn also alles diesem Gesichtspunkte Naheliegende groß wiedergegeben wird, Gleich großes in größerer Entfernung aber verkleinert erscheint oder ganz verschwindet.
Mit einer solchen perspektivischen Verzerrung haben wir es auf dem Gebiete der Geschichte in dreifacher Hinsicht zu tun:
1. Wir wissen zu viel von Europa und zu wenig von den übrigen neun Zehnteln der bewohnten Erde;
2. Wir wissen zu viel von den letzten 5 Jahrhunderten und zu wenig von den übrigen 45 Jahrhunderten der
mindestens 5000 Jahre sicher überlieferter Geschichte;
3. Wir wissen zu viel von Politik und Krieg und zu wenig von den übrigen Kulturbereichen der Geschichte.
Da die Oberschätzung von Eroberung, Zerstörung und Völkermord, ja, ihre Erhebung zum entscheidenden Kriterium der Geschichte, Grundlage der Selbstüberschätzung Europas und damit der Disproportionalität unseres raum-zeitlichen Weltbildes ist, soll hier die dritte der drei großen Verzerrungen zuerst betrachtet werden:
Eine Analyse repräsentativer Werke der Universalgeschichte gibt Klarheit über die bestehende Situation:
In dem historischen Standardwerk der USA, der von Langer herausgegebenen "Encyclopedia of world history", gehören 90,2 Prozent der behandelten Tatsachen in den Bereich der politischen und Kriegsgeschichte; in dem vierbändigen russischen "Lehrbuch der Geschichte" sind es 88,7 Prozent, im westdeutschen "Großen Ploetz" 91,8 Prozent, im ostdeutschen Geschichtsbuch von "Volk und Wissen" 87,9 Prozent und in der schweizerischen "Benzingers Weltgeschichte" 93 Prozent. Wir erkennen hier eine betrübliche Übereinstimmung der Geschichtsbücher in kapitalistischen und in sozialistischen Ländern: Rund neun Zehntel ihres Inhaltes sind der politischen Seite der Geschichte gewidmet, und nur ein Zehnte bleibt für die ganze übrige Geschichte: für Erfindungen und Entdeckungen, für Dichtung, Musik und Architektur; für Philosophie, Religion und Recht, für Mathematik und Astronomie, für Medizin, Physik und Chemie, für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie für die Entwicklung von Sitte und Brauch. Alle diese Lebensbereiche, von denen manchem allein ebensoviel Bedeutung und Gewicht zukommt wie der politischen Geschichte, sind insgesamt auf rund 10 Prozent des Inhalts unserer Geschichtsbücher und damit unseres Geschichtsbewußtseins verwiesen. Sie dienen also eigentlich nur der Garnierung dessen, was bis heute in Wahrheit Geschichte ist: die politische Geschichte. Daran ändert auch das grundsätzliche Bekenntnis zur Kulturgeschichte und Sozialgeschichte nichts, das heute im Vorwort fast aller Geschichtswerke, auch der hier analysierten, zu finden ist. Denn dieses Bekenntnis ist nur so viel wert, wie es in dem betreffenden Buch realisiert wird, weil die PROPORTIONEN UNSERES GESCHICHTSBEWUSSTSEINS NICHT VON ABSTRAKTEN GEDANKEN GEPRÄGT WERDEN, SONDERN VOM GEWICHT DES DARGEBOTENEN TATSACHENMATERIALS. Übrigens stellt schon die Benutzung des Wortes "Kulturgeschichte" ein indirektes Anerkenntnis der Tatsache dar, daß als "eigentliche" Geschichte eben doch die politische Geschichte gilt. Diese perspektivische Verzerrung der Sache wird erst dann überwunden sein, wenn "Geschichte" endlich die Bezeichnung sein wird für die Entwicklung unserer gesamten Kultur, zu der freilich die Politik nebst Krieg und Bürgerkrieg gehört, - aber nicht als die wichtigste, die alles beherrschende, mit 90 Prozent praktisch allein bestimmende Kraft, sondern als eine unter zahlreichen Triebkräften der Geschichte, die insgesamt den Fortschritt des Menschengeschlechtes bewirken.
Zu dieser ersten Verfälschung der wirklichen Proportionen im Geschichtsbewußtsein des Menschen, die
ich hier die VERZERRUNG DER SACHE nennen möchte, tritt, nicht minder gravierend, die VERZERRUNG
DES RAUMES. In den untersuchten Büchern beträgt der Anteil europäischer Geschichte im Durchschnitt
68 Prozent; die Abweichungen der verschiedenen Geschichtswerke voneinander sind auch hier gering.
Zu diesen 68 Prozent muß man noch die gut 10 Prozent nicht-europäischer Geschichte zählen, die in innigem Wirkzusammenhang mit der Geschichte Europas stehen. Ich denke an die Eroberungen nichteuropäischer Gebiete durch Europäer (vom Trojanischen Krieg über die Feldzüge Alexanders, Cäsars und Scipios bis Cortez und Disraeli), aber ich denke auch an die christliche Religionsgeschichte (von den Asiaten Moses und Jesus über die Afrikaner Cyrillus und Augustin bis zu den Kreuzzügen und zur Christianisierung der von europäischen Staaten unterworfenen Kolonien).
Somit sind rund 80 Prozent des Inhaltes unserer Geschichtsbücher der Entwicklung jener 2 Prozent der Oberfläche unserer Erde gewidmet, die als vorgeschobene Halbinsel Asiens sich selbst zu einem Kontinent erhob: Europa.
Ihren 10 Millionen Quadratkilometern stehen aber mehr als zehnmal so viel Quadratkilometer bewohnter Erde gegenüber, wenn man von den 150 Millionen Quadratkilometern des Festlandes unserer Erde die unbewohnten und die kaum bewohnten Gebiete abzieht. Wir sind also mit Kenntnissen über die Geschichte unseres eigenen Zipfels der Erde überfüttert, während für die übrigen neun Zehntel der Welt und ihre Geschichte nur noch ein Bruchteil des verfügbaren RAUMES IN UNSEREN BÜCHERN UND ALSO IN UNSEREN KÖPFEN bleibt. So verstellt uns das Wissen über die Geschichte unseres eigenen Kontinentes den Zugang zur Geschichte der Welt. Wir wissen alles über das Römische Weltreich, über Cäsar und seinen Gallischen Krieg - aber wir wissen nichts über die Entstehung des ersten Weltreiches der Geschichte, über Sargon und den Krieg der vier Weltgegenden. Wir wissen alles über Nero, Trajan und Hadrian - aber wir haben keine Ahnung davon, daß gleichzeitig in China das Papier erfunden und die erste Operation unter Narkose vorgenommen wurde. Wir wissen zu viel über Pippin und Karl Martell
- aber wir wissen nichts über die gleichzeitigen Kulturschöpfungen im Araberreich: Die Erfindung der Dezimalrechnung, die Begründung der modernen Naturwissenschaften durch das Experiment, die Entstehung einer wissenschaftlichen Medizin. Wir kennen jede Städtegründung Heinrichs des Löwen und jedes Detail seines Streits mit dem Kaiser - aber wir wissen nichts von dem gleichzeitig entstandenen größten Weltreich der Geschichte, dem Mongolenreich. Wir wissen genau, wann Kaiser Heinrich III. nach Rom zog, um einen Deutschen als Papst einzusetzen - aber wir wissen nicht, daß im gleichen Jahr 1046 der chinesische Schmied Pi-Scheng den Druck mit beweglichen Lettern erfand.
Die perspektivische Verzerrung DES RAUMES und DER SACHE in unserem historischen Weltbilde wird
ergänzt und gekrönt durch die perspektivische Verzerrung DER ZEIT selbst. Die Disproportionalität ihrer
Darstellung ist zugleich Voraussetzung und Folge - also integrierender Bestandteil - der beiden ersten
Verzerrungen. Ich möchte das hier an zwei bedeutenden Geschichtswerken erläutern:
Die Propyläen-Weltgeschichte, in der man wohl den krönenden Höhepunkt der bürgerlichen Geschichtsschreibung Deutschlands erblicken darf, umfaßt 10 Bände. Die ersten 3500 Jahre der 5000 Jahre schriftlich überlieferter Menschheitsgeschichte müssen sich samt Vor- und Frühgeschichte in die ersten beiden Bände drängen, die folgenden beiden Bände sind für die 1000 Jahre darauf bestimmt, dann folgen sechs Bände für die Geschichte der letzten 500 Jahre. Bedenkt man, daß diese letzten 500 Jahre die Blütezeit der europäischen Kultur gewesen sind, daß aber die übrigen mindestens 20 Kulturen der Menschheitsgeschichte zu anderen Zeiten ihre Höhepunkte hatten, so kann man bereits aus dieser Zeiteinteilung der Bände ablesen, in welchem Maße unser historisches Weltbild auch hier verzerrt wird. Natürlich finden sich in den letzten sechs Bänden auch Mitteilungen über die außer-europäische Welt. Aber erstens wird die übrige Welt in diesen europäischen Jahrhunderten vorwiegend als Objekt der europäischen Ausbeutung behandelt und zweitens werden diese Angaben aus der außereuropäischen Welt in den letzten sechs Bänden überkompensiert durch Angaben aus der europäischen Geschichte und der Frühgeschichte Europas in den ersten vier Bänden.
Die Propyläen-Weltgeschichte (die hier repräsentativ für alle großen, mir bekannten Standardwerke der bürgerlichen Weltgeschichtsschreibung steht) ist also keine Weltgeschichte. Sie ist eine politische Geschichte Europas mit Vergleichsdaten aus der Weltkultur. Ich muß hier einfügen, daß ich den Wert von historischen Einzelabhandlungen hoch einschätze, wenn sie überwiegend verläßliche, dokumentierte Kunde von der Vergangenheit geben. Ich glaube auch, daß es verdienstvoll ist, etwa eine politische Geschichte von Halberstadt oder Nowosibirsk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu schreiben, weil Weltgeschichte auf der Kenntnis einer unendlichen Zahl solcher Einzelvorgänge beruht. Aber derartige Einzelabhandlungen können Weltgeschichte nicht ersetzen, sie erhalten vielmehr ihren vollen Erkenntniswert erst durch ihre Einfügung in ein wirklich ganzheitliches Bild der Menschheitsgeschichte. Ich wende mich schließlich mit Entschiedenheit dagegen, daß historische Monographien als "Weltgeschichte" bezeichnet werden. Dem Grundsatz einer wahrheitsgetreuen Etikettierung, der sich sogar im Lebensmittelhandel allmählich durchsetzt, sollte auch in der Geschichtswissenschaft endlich Geltung verschafft werden. Und eine europäische Lokalgeschichte politischer Provenienz als "Weltgeschichte" zu etikettieren, ist nicht nur ein Fehler, sondern eine Irreführung; ganz gleich, ob diese Täuschung vorsätzlich erfolgt oder ob - noch schlimmer - der Geschichtsschreiber selbst daran glaubt, eine Weltgeschichte geschrieben zu haben. Gefährlich wird eine solche Gleichsetzung der eigenen Geschichte mit der Weltgeschichte, wenn etwa eine im Niedergang befindliche Kultur, die von früher durch sie beherrschte und ausgebeutete Nachbarkulturen bedrängt wird, auf diese Weise zu einer Selbsttäuschung über ihre Bedeutung in der Welt verführt wird. Und genau das ist die Gefahr, in der wir heute und hier stehen. Deshalb ist es also für Europa noch wichtiger als für die übrige Welt, eine nichtverzerrte, den wirklichen Proportionen angemessene Vorstellung der Erde und seiner eigenen Bedeutung und Größe auf ihr zu gewinnen.
Lassen Sie uns nun untersuchen, ob eine zweite zehnbändige Weltgeschichte, die uns in den letzten Jahren geschenkt wurde, diese Forderung erfüllt. Ich meine das von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegebene Werk, das sich selbst im Vorwort als erste marxistische Weltgeschichte bezeichnet. Bei ihr dienen die letzten sechs Bände nicht mehr der Darstellung der letzten 500 Jahre, sondern nur noch der Zeit von der englischen Revolution bis zur Gegenwart, also der letzten 400 Jahre. Die dreifache perspektivische Verzerrung, die insgesamt auf eine Überbetonung der politischen Geschichte Europas hinausläuft, ist hier noch mehr übersteigert. Es handelt sich also auch bei der neuen russischen Weltgeschichte nicht um eine Weltgeschichte.
Kann sie sich marxistisch nennen? Soweit das Wort "marxistisch" in dem Sinne gemeint ist, wie es von sozialistischen Wissenschaftlern gebraucht wird, nämlich als Synonym für "wissenschaftlich", kann man ihr das Prädikat nicht zusprechen, weil sie den selbsterhobenen Anspruch, eine Weltgeschichte zu sein, nicht erfüllt. Nimmt man dagegen das Wort in dem Sinne, wie es heute noch in den kapitalistischen Ländern gebraucht wird, nämlich als Bezeichnung einer Geschichtsauffassung, die klassenbedingte Fehlinterpretationen der bürgerlichen Geschichtsschreibung richtigstellt, die Bedeutung der Volksmassen in der Geschichte zu würdigen sucht, eine wirklichkeitstreue Beschreibung des Klassenkampfes anstrebt und schließlich auch die Bedeutung der Produktivkräfte sowie der Ökonomie berücksichtigt, dann mag ihr das Prädikat "marxistisch" zuerkannt werden. Ich würde sie allerdings lieber als "marxisch" bezeichnen; diese Kennzeichnung beinhaltet die soeben dargelegte positive Seite des Werkes und zugleich seine negative Eigenart. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß auch Marxens Bild der Weltgeschichte von der dreifachen perspektivischen Verzerrung geprägt war, die bis heute allen Weltgeschichten (einschließlich der neuen russischen) eigen ist. Sonst wäre Karl Marx niemals die gravierende und in ihrer Auswirkung retardierende Fehldiagnose unterlaufen, daß es die Arbeiterklasse Westeuropas sei, die berufen ist, die kommunistische Umwälzung der Welt ins Werk zu setzen. Freilich, Karl Marx muß diese Enge seines Geschichtsbildes verziehen werden, ihm stand als modernstes Werk die Weltgeschichte des weiland badischen Professors Karl Wenzeslaus Rodecker von Rotteck zur Verfügung. Er hat sich das darin enthaltene Tatsachenwissen zu eigen gemacht - unbewußt aber damit zugleich die dreifache perspektivische Verzerrung dieses historischen Weltbildes sich einverleibt, dem die Völker Indiens und Chinas noch genau wie dem seligen Hegel als Völker des ewigen Stillstandes und mithin als geschichtslos galten. Solche Ignoranz mag damals, im Zeitalter eines den ganzen Erdball niedertretenden Europäertums, erlaubt, vielleicht sogar geboten gewesen sein. Heute aber, da die Nationen Mittel- und Westeuropas aufgehört haben, Großmächte zu sein, und da wir bereits die Zeit absehen, da auch die beiden Großmächte von heute, die USA und die UdSSR, den beiden volkreichsten Ländern der Erde, Indien und China, die diesen auf Grund ihrer Bevölkerungszahl und ihrer Geschichte gebührende Führerrolle überlassen müssen, ist es für uns höchste Zeit, mit dem Studium der Weltgeschichte zu beginnen. Wir können daraus auch die natürliche, uns zukommende Rolle in einer Welt von Gleichen erkennen.
Ist es aber heute schon möglich, ein wirklich umfassendes Bild der Vergangenheit zu geben, das nicht diese furchtbaren Verzerrungen aufweist, von denen unsere universalhistorischen Werke ausnahmslos geprägt sind, ein Geschichtsbild also, das man mit Recht als "Weltgeschichte" bezeichnen kann?
Diese Frage beschäftigte mich vor gut zwanzig Jahren. Vieles von dem, was zu einem wahrhaft universalen geschichtlichen Bewußtsein gehörte, war gewiß schwerer zugänglich als jener Wust von Überlieferung der politischen Geschichte Europas, der unsere Geschichtsbücher füllte - aber das Material war da, wenigstens für die letzten drei Jahrtausende der Menschheitsgeschichte. Nun beschäftigte mich die Frage, warum denn noch kein Versuch zur Schaffung eines wirklich umfassenden Geschichtsbildes unternommen worden war. Selbst wenn man die in ihrer Bequemlichkeit wurzelnde Neigung der Geschichtsschreiber berücksichtigte, ihre Bücher möglichst mit dem am leichtesten zugänglichen Material zu füllen, konnte man angesichts der unabweisbaren Notwendigkeit eines universalen Geschichtsbildes darin nicht den wahren Grund für diesen Mangel erblicken. Auch das gelegentlich vorgebrachte Argument, der Mensch interessiere sich nun einmal mehr für die Geschichte seiner eigenen Zeit und seines eigenen Raumes, konnte das Fehlen eines universalen Geschichtswerkes nicht erklären, weil ja gar nicht die Berechtigung solcher Geschichtswerke über den engeren Lebensraum bestritten, sondern nur deren Ergänzung durch ein wirklich umfassendes Geschichtswerk gefordert wurde, und weil zudem das Korrektiv der Universalgeschichte ja gerade um so notwendiger wurde, je stärker sich das Interesse des Durchschnittsbürgers auf seinen Raum und seine Zeit beschränkte. Erst als ich den Versuch unternahm, selbst das niederzuschreiben, was so dringend benötigt wurde, nämlich eine umfassende Weltgeschichte, erkannte ich die beiden echten Gründe für die offenbare Unmöglichkeit der Verwirklichung eines solchen Vorhabens. Ich muß Sie an dieser Stelle bitten, im Geiste dem Geschichtsschreiber an seinen Schreibtisch zu folgen, wohin er sich begeben hat, um die Geschichte in ihrer Totalität ohne jede Verzerrung zu fassen, so, wie sie im Zeitalter der Weltwirtschaft, des erdumspannenden Verkehrs und des globalen Nachrichtenwesens sowie einer immer enger zusammenwachsenden Wissenschaft und Kultur, kurz: In der Epoche des anbrechenden Internationalismus, geboten scheint. Stellen Sie sich bitte vor, wir beschreiben etwa eine neue medizinische Operationstechnik in Indien im 8. Jahrhundert. Eine solche Monographie ist schreibbar. Wenn wir sie nun aber abgeschlossen haben, geht es darum, dies Einzelgeschehen in den geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Da beschreiben wir also die Situation der Chirurgie um diese Zeit in der ganzen Welt. Diese (vertikale) Zuordnung ist aber leider bereits unvereinbar mit der zweiten, nicht minder notwendigen (horizontalen) Zuordnung dieser neuen Operationstechnik, ihrer Zuordnung zur Entwicklung der Chirurgie in Indien durch die ganze historische Zeit. Wir können diesem Koordinatenkreuz nicht allseitig folgen; wie immer wir uns entscheiden - wir lösen die Aufgabe einseitig und also mangelhaft. Aber damit fängt das Dilemma erst an: Die Chirurgie ist nur verständlich im Zusammenhang mit der ganzen übrigen Medizin. In deren Entwicklung müßte also die neue Operationstechnik ebenfalls einbezogen werden, und zwar wiederum sowohl in deren gleichzeitige Lage in der ganzen Welt (vertikal) wie in ihre Entwicklung in Indien durch die ganze Zeit (horizontal). Da es sich um eine Operationstechnik handelt, gehören neue Geräte dazu, die man auf dem Hintergrund der Metallurgie sehen muß, und zwar wiederum in deren beiden Koordinaten. Die Metallurgie bleibt unverständlich ohne die übrige Technik, diese wiederum kann nur auf dem Hintergrund der Wirtschaft wie der gesamten Naturwissenschaft verstanden werden. Schließlich ist Wirtschaft und Technik nicht ohne Politik und Krieg zu begreifen, und jede dieser Kräfte muß sowohl in ihrer Situation in der ganzen Welt (vertikal) wie in ihrer Entwicklung durch die ganze historische Zeit (horizontal) gesehen werden. Kurz: Will man die neue Operationstechnik in Indien im 8. Jahrhundert richtig verstehen, muß man sie in Beziehung setzen mit der gesamten Weltgeschichte in allen ihren Erstreckungen. Und das ist natürlich unmöglich. Korrekterweise müssen wir hinzufügen: Es ist unmöglich mit dem Mittel des geschriebenen Wortes, das offenbar ungeeignet ist, eine solche universale Schau zu vermitteln. Will man also Geschichte SCHREIBEN, so ist man genötigt, sich ein historisches Subjekt herauszusuchen, dessen Entwicklung durch die ganze Zeit zu verfolgen und schließlich darum herum all das zu garnieren, was zur Farbigkeit beitragen, den Eindruck von Universalität hervorrufen kann. Ein solches historisches Subjekt, so stellte der deutsche Historiker Freyer mit schönem Freimut fest, sei nun einmal nur in der Geschichte Europas zu erblicken - womit er natürlich die politische Geschichte Europas meinte. Er nannte seine Geschichte deshalb auch "Weltgeschichte Europas". Auf diese Weise aus der Not eine Tugend machend, hat er in unserer Zeit die dreifache Enge unseres Geschichtsbildes zur Ideologie erhoben und damit das ausgesprochen, was von seinen Kollegen längst im Stillen vollzogen worden ist: das Festhalten an einem engen, unzureichenden, verzerrten und damit falschen historischen Weltbilde trotz Vorliegen umfassenden historischen Tatsachenmaterials.
Gibt es hierzu eine Alternative? Wenn wir an der Sprache als Mittel der Geschichtsschreibung festhalten, nicht. Denn das geschriebene Wort kennt, wie das gesprochene, nur ein Nacheinander. Das Mit-Einander aber, das Neben-Einander, das In-Einander, ja das Durch-Einander ist das Wesen der Geschichte. Die Sprache und die auf ihr beruhende Schrift kann infolge ihres LINEAREN Charakters dem KOMPLEXEN Wesen der Geschichte nicht gerecht werden, sie ist gezwungen, sich der Geschichte auf ihre Weise zu bemächtigen. So ist der Geschichtsschreiber dazu verdammt, den Reichtum der Geschichte auf ein dünnes, schreibbares Wort-Rinnsal zu reduzieren, das er dann nachträglich wieder durch allerlei Kunstgriffe anzureichern sucht. Die Enge des Geschichtsbildes, seine mehrfache perspektivische Verzerrung ist also bedingt durch unsere rein VERBALE MITTEILUNGSWEISE.
Bevor wir die Frage nach der Möglichkeit eines dem Wesen der Geschichte entsprechenden Mitteilungssystems stellen, lassen Sie mich das bisher nur von der Seite des GESCHICHTSSCHREIBERS her gesehene Problem noch aus dem Blickwinkel des GESCHICHTSLEHRERS und -SCHÜLERS betrachten. Ihnen geht es nicht um die MÖGLICHKEIT DER GESTALTUNG des Stoffes, sondern um die NOTWENDIGKEIT Seiner ANEIGNUNG. Und hier zeigt das für die Geschichtsschreibung als unzulänglich erkannte Mitteilungssystem des geschriebenen Wortes seine völlige Untauglichkeit. Denn die Sprache erweckt in uns gedankliche Vorstellungen, die sich nur schwer gedächtnismäßig erarbeiten lassen. So kommt es, daß unser Geschichtssinn bis heute auf dem Wege über das Zahlenlernen erworben werden muß. Natürlich lassen sich historische Einzelvorgänge auch durch kausale oder äußere Verknüpfung mit anderen Einzelvorgängen einprägen. Aber solche Verknüpfungen sind einseitig, weil jeder der so verbundenen Einzelvorgänge in Zusammenhang auch mit zahlreichen anderen Einzelvorgängen gesehen werden muß. Und:
Sobald es um die universale Gesamtschau der Geschichte geht, ist alle textliche Überlieferung auf die Assoziation über die eingeprägten Jahreszahlen angewiesen. Nun ist es aber für ein normales Gedächtnis schwer, auch nur 300 bis 400 Geschichtszahlen sich einzuprägen, und bei 500 solcher Daten liegt die Leistungsgrenze unseres Gehirns. Um aber eine Ahnung von der Geschichte in ihrer ganzen Breite und Tiefe zu bekommen, muß der Mensch mindestens 20mal so viele Tatsachen und Persönlichkeiten kennen und geistig zuordnen. So ist also die DREIFACHE ENGE unseres Geschichtsbildes auch BEDINGT DURCH DIE NOTWENDIGKEIT DER GEDÄCHTNISMÄSSIGEN ANEIGNUNG DER AUF DEM GESCHRIEBENEN WORTE BERUHENDEN LERNMETHODE.
Wollte man die Geschichte umfassend, also wahrhaft universal zur Anschauung bringen, so mußte man sich von ihrer bisherigen Mitteilungsweise, dem geschriebenen Worte, trennen. Es mußte eine neue Darstellungsmethode entwickelt werden, die nicht mehr der gedächtnismäßigen Aneignung bedurfte, und die deshalb auch des Zahlenlernens entraten konnte.
Diese Einsicht bewog mich vor mehr als zwanzig Jahren dazu, den Ausweg durch Schaffung eines neuen, dem Wesen der Geschichte adäquaten Mitteilungssystem zu suchen. Zu diesem Zwecke studierte ich Methoden nicht-historischer Disziplinen.
Die moderne Physik zielte damals auf eine Aufhebung des Gegensatzes von Raum und Zeit. Sie schickte sich an, die Zeit als eine vierte Dimension zu begreifen. Für den Historiker fielen dagegen die drei räumlichen Dimensionen der Physik zu einer einzigen Dimension zusammen gegenüber der Zeit, die ihr als zweite Dimension gleichrangig gegenüberstand. Wenn man diesen beiden Grunddimensionen des historischen Weltbildes auch die sachliche Erstreckung der Geschichte als dritte Dimension zuordnen konnte, so lag doch das Schwergewicht dieser neuen Kategorienlehre in der ANNÄHERUNG VON RÄUMLICHER UND ZEITLICHER BEGREIFENSWEISE.
Dies legte den Gedanken nahe, die von der Geographie angewandten Methoden zu studieren. Verzichtete doch die Geographie auf gedächtnismäßige Aneignung und vermittelte ihren Wissensstoff, indem sie die Dinge selbst anschaulich machte, Einzelheiten nur noch zum Nachschlagen bereithielt. So blieb der Kopf frei zur Aneignung einer Vorstellung von der Beschaffenheit unserer Erde im Großen und Ganzen. Wissen wurde hier nicht mehr durch einen gedächtnismäßigen Willensakt erworben, sondern durch UNMITTELBARE ANSCHAUUNG, die offenbar selbsttätig zu einer innigen Vertrautheit mit der Materie führte.
Eine Analyse des geographischen Mitteilungssystems zwang zu der Einsicht, daß sich die GESCHICHTSSCHREIBUNG gleich noch IN EINEM ENTWICKLUNGSSTADIUM befand, das demjenigen der GEOGRAPHIE VOR DER ERFINDUNG DER LANDKARTE entsprach. Ich stellte mir vor, wie umständlich es sein müßte, ohne eine Landkarte Geographie zu lernen - wenn also dem Lehrer gar nichts anderes übrigbliebe, als den Schülern zu sagen: "Merkt Euch, Tokio liegt auf dem 140. Grad östlicher Länge und auf dem 35. Grad nördlicher Breite - Peking aber liegt auf dem 115. Grad östlicher Länge und auf dem 40. Grad nördlicher Breite".
Der Versuch, sich auf diese Weise eine Vorstellung vom Raum zu erarbeiten, in dem wir leben, müßte unweigerlich bei der zehnten oder zwanzigsten Stadt scheitern. Bei unserer Orientierung in der Zeit, die jeweils nur eine Zahl zur Zuordnung braucht, scheitert der Versuch erst beim hundertsten oder dreihundertsten Datum - aber er scheitert. Er muß scheitern. Mehr noch: Der Zwang zum Zahlenlernen macht aus einem hochinteressanten Gegenstand, der Geschichte, das langweiligste Unterrichtsfach. Denn die aus ihrer herkömmlichen Methode notwendig folgende Beschränkung auf ein mit Zahlen erlernbares Grundwissen zwang zu jener dreifachen Enge, deren Unhaltbarkeit und Gefährlichkeit wir bereits erkannten. Wollte man diese Enge sprengen, so mußte man ein der Landkarte entsprechendes Mitteilungssystem für die Geschichte schaffen, kurz: eine ZEITKARTE.
Jahrelange Versuche führten zu einer brauchbaren Lösung: Zu einer Leporello-Tafel, die es erlaubte, mit einem Blick die Struktur einer Epoche zu erkennen, und die dabei doch eine genaue Aufzeichnung tausender und abertausender historischer Einzelheiten und deren mühelose Zusammenschau ermöglichte.
DIE ZEIT WURDE RÄUMLICH DARGESTELLT.
Ein für alle Epochen verbindlicher Maßstab wurde entwickelt. Zur Kennzeichnung der einzelnen Sachbereiche wurden Farben verwendet: Das Blau von Wasser und Himmel wurde zur Farbe von Kunst und Geisteskultur, das Grün der fruchtbaren Ebenen zur Farbe von Wirtschaft, Technik und Wissenschaft, das Braun der schroffen Berge und Felsen zur Farbe von Krieg und Bürgerkrieg, das Lila der Kirche zur Farbe der Religion und das Rot von Königs-Purpur und Jakobinermütze zur Farbe der Politik. Auf die naheliegende Verwendung neuer Symbole wurde verzichtet, statt dessen wurden die bekannten Buchstabenzeichen benutzt, so daß auch diese neue Zeitkarte geschrieben ist. Doch wurde die Sprache hier nicht überfordert - sie bietet nur die einzelnen Tatsachen der Anschauung dar und überläßt die gedankliche Verknüpfung dem Betrachter -‚ sie gibt nur das aus dem herkömmlichen engen Zusammenhang herausgelöste Faktum und ermöglicht gerade dadurch die UNIVERSALE ZUSAMMENSCHAU.
Nach zehnjähriger Vorarbeit konnte ich die letzten dreitausend Jahre Weltgeschichte dem Benutzer übergeben, nach weiteren zehn Jahren auch die zweitausend Jahre früher Menschheitsgeschichte. Ich nannte das Werk, das auf der ZUSAMMENSCHAU DES GLEICHZEITIGEN beruht, "Synchronoptische Weltgeschichte". Durch sie wurde es möglich, ein ganzes Jahrhundert mit einem Blick zu erfassen und es andererseits auch ins Einzelne gehend zu studieren - kurz: Auf ganz persönliche Weise sich anzueignen.
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Sie sehen hier eine der 50 Jahrhundert-Tafeln der "Synchronoptischen Weltgeschichte". Hier links das Jahr 1701, 1702 und so weiter bis hier rechts: 1800. Unten die Kriege - hier der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763, von dem wir zu viel wissen - und hier gleichzeitig der weltweite Kampf zwischen England und Frankreich um die Vorherrschaft in den überseeischen Gebieten von Kanada bis Indien, den ich unter dem Namen "Englisch-französischer Kolonialkrieg" zusammengefaßt habe ... und von dem wir zu wenig wissen. Die roten Eintragungen geben die politische Entwicklung dieser Zeit wieder, etwa den Beginn der englischen Vormacht in Indien und den französischen Verlust Kanadas. Die handelnden Personen sind entsprechend der Länge ihres Lebens eingetragen: Hier Friedrich der Große, hier die fünf Jahre jüngere Maria Theresia, hier Katharina II. Kant (blau) erscheint nicht nur als ihr Zeitgenosse, man sieht ihn auch im Zusammenhang mit den übrigen bedeutenden Geistern seiner Zeit, mit Hume, Lomonossow, Rousseau und Diderot - aber man kann ihn auch horizontal einordnen, in die Entwicklung der deutschen Philosophie von Leibniz über Christian Wolff zu Hegel, und Marx. . .‚ so, wie in der Musik sein Zeitgenosse Haydn als von Bach und Händel kommend und zu Mozart und Beethoven führend uns entgegentritt. Und so in der deutschen Dichtung die Folge Lessing, Goethe, Schiller, Kleist - und hier (grün) sieht man mit James Watt das Maschinen-Zeitalter heraufziehen und mit Lavoisier die moderne Chemie. Adam Smith schafft das erste geschlossene volkswirtschaftliche System. Oben die grünen und blauen Jahresfelder geben zur Feinzeichnung der Zeit viele Einzelheiten, aber auch die Hauptwerke der mit Lebenslinien aufgenommenen Persönlichkeiten, die der Epoche ihr Gesicht gaben. Hier (1771 blau) schreibt Goethe seinen Goetz von Berlichingen; seine Lebenslinie beginnt hier (1749) und man kann nun natürlich abzählen, daß er 22 Jahre alt war, als er den Goetz schrieb. Aber es genügt ja zu sehen (und sich damit unbewußt einzuprägen), daß er dieses Werk als junger Mann geschrieben hat. Das erkennt man mit einem Blick, denn eine halbe Seite gibt immer, in jeder Epoche, fünfzig Jahre. Sieht man dann etwa daneben (1764) Rousseaus "Bergbriefe" und setzt dies Werk in Beziehung zu dessen Leben, so sieht man, daß es sich hier um ein reifes Alterswerk handelt.
Und so orientiert man sich HORIZONTAL UND VERTIKAL zugleich, die ALLSEITIGE VERFLOCHTENHEIT alles historischen Geschehens vor Augen, in die Lage versetzt, sie ins einzelne gehend zu verfolgen und sich so durch wiederholte Anschauung und denkerische Verknüpfung ein eigenes Bild der Weltgeschichte in ihrer ganzen Vielfalt zu erarbeiten.
Auf einer Übersicht der fünf historischen Jahrtausende wird augenfällig, daß jedes Jahrhundert ein eigenes Gesicht hat. Man erkennt es immer klarer, je genauer man es betrachtet und studiert.
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So sieht man im 17. und 18. Jahrhundert eine Häufung der blauen Eintragungen. Das deutet auf eine Zusammenballung geistiger Leistungen hin, wie sie sich nur noch einmal in der Geschichte ereignet hat, nämlich im 5. und 4. Jahrhundert vor der Zeitwende, wo von Griechenland bis China in großen Teilen der Erde große kulturelle Leistungen vollbracht wurden. In den darauffolgenden Jahrhunderten wird die historische Landschaft zunehmend von Politik und Krieg bestimmt. Rom nimmt hier seine Stellung als mittelmeerische Weltmacht ein. Dann folgen vier Jahrhunderte, in denen die Farbe Lila das Gesicht der Zeit prägt: Das Christentum wird geboren . . . und so geht es fort: Im angeblich finsteren Mittelalter, das ja nur in dem von der Kirche bedrückten Europa finster war, sehen wir eine Fülle künstlerischer, geistiger und technischer sowie wirtschaftlicher und politischer Aktivität von der arabischen Welt über Indien bis China und Japan . . . Und schließlich in unserem eigenen Jahrhundert bei allmählichem Versiegen der Geisteskultur eine vorher unbekannte Blüte von Naturwissenschaft und Technik bei gleichzeitiger Häufung im politisch-revolutionären Bereiche: Technische Revolution und soziale Revolution bestimmen das Gesicht unserer Epoche.
Diese neue Methode der Geschichts-Vermittlung, die auf einer räumlichen Darstellung der Zeit beruhte, bot dem Historiker endlich die Möglichkeit einer umfassenden Darstellung. Hier war dem forschenden Geiste keine methodische Grenze mehr durch das Mitteilungssystem gesetzt. Ein einheitlicher Pegel wurde bestimmt; was darüber hinausragte, wurde verzeichnet, ganz gleich, ob es sich auf einer Hochebene Innerasiens, in einer europäischen Metropole oder im südamerikanischen Urwald ereignet hatte, unabhängig auch davon, ob das Geschehen auf dem Gebiete der Politik, der Kunst, der Religion, der Technik oder der Wissenschaft lag, unabhängig auch davon, ob es sich in unserer eigenen Epoche ereignet hatte oder vor Jahrhunderten und Jahrtausenden. Und wenn auf der Landkarte durch die Konturen der Kontinente, durch die Verteilung der Farben von Wasser, Tiefebene und Gebirge die räumliche Struktur ablesbar wurde, auf meiner Tafel wurde die Struktur der Zeit sichtbar durch die Häufung der Lebenslinien und Jahresfelder der einzelnen Lebensbereiche, für die bestimmte Farben stehen. So wenig in der Geographie Berge und Flüsse willkürlich gesetzt sind, ist auf meinen Tafeln die Struktur der Zeit bewußt gestaltet. Sie ergab sich aus der gewissenhaften Eintragung der erheblichen Tatsachen und Persönlichkeiten aller Lebensbereiche, aller Länder der Erde und aller Epochen der Geschichte. Diese maßstabgleiche Darstellung der Weltgeschichte machte auch die Jahrhunderte und damit die Kulturen der Erde vergleichbar. Geschichte wurde nicht mehr gelernt, sondern geschaut und begriffen. Die Grenze gedächtnismäßiger Aneignung war aufgehoben. Die Voraussetzung für ein echtes, von Enge und Verzerrung freies Geschichtsbild war geschaffen.
Aber noch etwas anderes war geschehen: das geschichtliche Weltbild war IN SEINER STRUKTUR ÜBERPRÜFBAR, bis in die Einzelheiten kontrollierbar geworden. Damit war der Weg frei für die Annäherung und
endliche Angleichung des Geschichtsbildes aller Länder der Erde. Ein verbindlicher Geschichtskanon als
Ergebnis der Zusammenarbeit von Historikern mehrerer Länder und endlich der ganzen Erde war in den
Bereich des Möglichen gerückt.
Die vor fünf Jahren erschienene französische Ausgabe der Synchronoptischen Weltgeschichte zeigte, daß dieser Weg praktikabel ist. Das Buch findet in Frankreich eine dreimal schnellere Verbreitung als in Deutschland. Damit ist für Hunderttausende in diesen beiden Ländern ein gemeinsames Geschichtsbild Wirklichkeit geworden. Natürlich gibt es keine mechanische Angleichung des historischen Weltbildes aller Völker - insbesondere nicht in einer Epoche, die vielen Völkern erst den Stolz auf ihre eigene Geschichte beschert. Aber wenn, wie bei den Ausgaben in Deutschland und Frankreich - rund 90 Prozent der Einträge übereinstimmen, so ist damit bereits das Höchstmaß an wünschenswerter Angleichung erreicht. Und wenn dazu noch die selbstverständliche Voraussetzung tritt, daß jede in irgendeine Ausgabe aufgenommene historische Tatsache mit den gleichen Worten beschrieben wird, in einer Fassung also, die allen Völkern zusagt, dann ist die Grundlage für ein völkerverbindendes Geschichtsbewußtsein geschaffen. Ich möchte noch hinzufügen, daß etwa 500 Einträge, die erstmals in der französischen Ausgabe erschienen, inzwischen in die deutsche Ausgabe übernommen worden sind. Hier wird die Tiefe der korrigierenden Rückwirkung jeder neuen Fassung der Synchronoptischen Weltgeschichte auf alle bereits vorhandenen Ausgaben deutlich. So zeichnet sich der Weg zu einem für alle Völker verbindlichen Grundwissen der Weltgeschichte ab, das im Zeitalter der Nationalstaatlichkeit noch in jedem Lande durch Kenntnisse von lokaler Bedeutung vervollständigt werden kann.
Die neue Methode hatte aber noch eine weitere Auswirkung: Ein bisher den Geisteswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften zugehöriges Gebiet, die Geschichte, war mit NATURWISSENSCHAFTLICHER ARBEITSWEISE angegangen worden. Die SYSTEMATISCHE ERFASSUNG und vollständige Darstellung der Geschichte in ihren drei Dimensionen war Voraussetzung, eine zunehmend QUANTIFIZIERENDE BETRACHTUNGSWEISE die Auswirkung der neuen Arbeitsweise. Dadurch war der vorher schillernde und unklare Begriff der historischen Objektivität neu bestimmt: Es genügte nicht mehr die sachliche Darstellung willkürlich ausgewählter Tatsachen. Die Auswahl selbst war nun zum ersten Kriterium der Objektivität geworden: Je vollständiger die Geschichte erfaßt war, desto echter mußte das Bild der Vergangenheit sein. Die bürgerliche Geschichtsschreibung geriet in Bedrängnis: Ihre Objektivität, die in der leidenschaftslosen Darstellung eines in dreifacher Enge befangenen historischen Tatsachenmaterials bestand, versagte angesichts dieser Konfrontation mit der Totalität der Geschichte. Sie erwies sich als das, was sie immer gewesen ist: als Schein-Objektivität.
Andererseits hatte die marxistische Wissenschaft inzwischen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und die von der bürgerlichen Wissenschaft geschändete Objektivität kurzerhand abgeschafft. Das Wort "Objektivität" wurde geächtet, indem man das akustisch verwandte, der Sache aber fremde Wort des Objektivismus nach vorn spielte - wohl wissend, daß der Versuch, sich unter Bezugnahme auf die Objektivität außerhalb des Klassenkampfes zu halten, nicht gelingen konnte, und so die Volksmassen mit dem rechtens abgelehnten Objektivismus auch die Objektivität verbannen müßten. Während man mit diesem Kunstgriff den Objektivitätsbegriff zum Schaden des Sozialismus aus dem Wissenschaftsbereich in den politischen Raum drückte, wurde der politische Begriff der Parteilichkeit in den Raum der Wissenschaft hineinkatapultiert. Dies bedeutete praktisch nichts anderes, als daß wissenschaftliche Wahrheit sich im Zweifelsfalle politischer Notwendigkeit zu beugen hatte.
Es ist offenbar, daß in diese geistige Landschaft ein Werk nicht paßte, das allein einer sachlichen Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit dient. So kam es, daß die Synchronoptische Weltgeschichte im sozialistischen Teile Deutschlands und der Welt bis heute nicht gedruckt wurde, während sie trotz mancher Widerstände "konservativer und klerikaler Historiker in der Bundesrepublik und in Frankreich zu einem Bestseller geworden ist. Es bleibt die Hoffnung, daß Geschichte überall auf der Erde allmählich zu einer Wissenschaft wird, die sich wissenschaftlicher Systematik und Exaktheit befleißigt, und damit endlich jene unheilvolle Verquickung aufgibt, in die sie durch die Eigenart der Schriftsprache gedrängt worden Ist, die bis heute ihr Medium war: Ich meine die VERSCHMELZUNG VON TATSACHENÜBERLIEFERUNG, GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND SCHRI FTSTELLEREI, deren unentwirrbare Vermischung immer noch die Geschichtsschreibung kennzeichnet.
Die Synchronoptische Weltgeschichte beschränkt sich im vorliegenden Grundband, in dem in Arbeit befindlichen lndexband und in den geplanten 12 Ergänzungsbänden auf die Tatsachen-Überlieferung. Sie stellt den Stoff bereit zur eigenen gedanklichen Verknüpfung durch den Benützer, dem sie durch diese Bescheidung die Schaffung einer eigenen Geschichtsphilosophie überläßt und, was nicht weniger wichtig ist, die Überprüfung aller fremden Geschichtsphilosophie ermöglicht.
Jede über die wissenschaftlich allein gerechtfertigte Monographie hinausgehende REIN VERBALE GESCHICHTSSCHREIBUNG, wie sie heute noch allgemein gebräuchlich Ist, ja, als klassische Arbeitsweise des Historikers gilt, ist nun in den BEREICH DER LITERATUR verwiesen. Hier hat sie sich den Maßstäben der Ästhetik und der inneren Wahrhaftigkeit zu stellen wie jedes andere Kunstwerk, ohne fernerhin mit der ihr wesensfremden und sie In ihrer Entfaltung hemmenden Anforderung historischer Wissenschaftlichkeit konfrontiert zu sein.
Ich komme jetzt zum zweiten Teil meiner Ausführungen, zur perspektivischen VERZERRUNG UNSERES GEOGRAPHISCHEN WELTBILDES. Einige vorgesehene Ergänzungsbände zur "Synchronoptischen Weltgeschichte" sind Atlasbände. Bei ihrer Planung mußte ich mich genauer mit Fragen der Geographie beschäftigen. Und da machte ich eine merkwürdige Feststellung:
In meinem Arbeitszimmer befindet sich eine große Weltkarte, weil mir die räumliche Zuordnung alles historischen Geschehens ein ständiges Bedürfnis ist. Hier erkenne ich mit einem Blick die wirklichen Proportionen der Länder, Staaten, Reiche und Kontinente ... jedenfalls glaubte ich das bis zu dem Augenblick, als ich begann, meine Weltkarte genauer zu prüfen. Dann stellte ich nämlich fest, daß ich mich einige Jahrzehnte meines Lebens hindurch hatte täuschen lassen. Damit Sie verstehen, was ich meine, möchte ich Sie an meinen Beobachtungen teilhaben lassen:
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Sie sehen hier eine Weltkarte, wie sie fast überall zu finden ist. In Ost und West lebt man einträchtig in der Vorstellung, die auch mein Weltbild bis vor zwei Jahren bestimmte: daß es sich bei dieser 400 Jahre alten Karte des Herrn Mercator um ein im Großen und Ganzen echtes Abbild der Länder und Kontinente unseres Planeten handelt.
Wenn man nun auf diese Karte blickt und vergleicht etwa Spanien mit Schweden, so gewinnt man den Eindruck, als sei Spanien nur etwa halb so groß wie Schweden. In Wahrheit ist aber Schweden (448.000 qkm) kleiner als Spanien (490.000 qkm).
Einmal mißtrauisch geworden, vergleicht man weitere Größen. Wie steht es mit dem Verhältnis Afrikas zur Sowjetunion? Scheinbar ist die Sowjetunion mindestens doppelt so groß wie Afrika, vielleicht sogar dreimal so groß. Hier die Zahlen: Afrika 30 Millionen Quadratkilometer, Sowjetunion 22 Millionen Quadratkilometer. Und so geht es weiter: Südamerika scheint bequem in Kanada hineinzupassen, tatsächlich aber ist Südamerika fast doppelt so groß wie ganz Kanada mit allen seinen Inseln. Vergleichen wir Indonesien mit Skandinavien, so scheint uns Skandinavien größer - ist es aber nicht, allein die Insel Sumatra ist mit ihren 424.000 Quadratkilometern größer als das nur 337.000 Quadratkilometer große Finnland, das auf der Karte um ein Mehrfaches größer als Sumatra erscheint. Suchen wir nun ein Land, das optisch etwa die Größe Skandinaviens hat, so bietet sich Indien an. Tatsächlich hat aber Indien ohne Pakistan 3,3 Millionen Quadratkilometer, Norwegen, Schweden und Finnland hingegen zusammen nur 1,1 Millionen Quadratkilometer. Nähere Betrachtung bringt weitere Fehler ans Licht: Der Äquator liegt nicht in der Mitte der Karte (denn dann liefe er durch das Mittelmeer), die Kartenmitte liegt vielmehr noch um 20 Grad über dem nördlichen Wendekreis, also unmittelbar unter dem 45. Breitengrad, der die nördliche Hälfte der Erdkugel halbiert. So füllt das nördlichste Viertel der Erde (das flächenmäßig sogar einen bedeutend kleineren Raum als ein Viertel der Erdoberfläche umschließt) praktisch die halbe Weltkarte. Auf diese Weise liegt dann Europa in der Mitte der Welt, kleiner zwar als die großen Kontinente, aber immer noch recht ansehnlich ... und den weißen Völkern, zu denen ja schließlich auch die Nordamerikaner, Kanadier und Russen zählen, gehört eben doch mehr als die halbe Erde. So stellen sich die Proportionen dar, wenn man auf eine unserer heutigen Weltkarten blickt (wobei es Karten gibt, die weniger verzerrt sind als diese noch weitverbreitete Mercatorkarte, dafür aber andere Fehler haben). Geographen klären uns darüber auf, daß diese Weltkarte die Erde nicht absichtlich verzerre, sondern nur deshalb Disproportionen aufweise, weil eben eine Kugel nicht verzerrungsfrei auf eine Ebene zu übertragen sei.
Testfragen an Kollegen alter Fakultäten, an Redakteure und Lehrer, Politiker und Staatsmänner ergaben, daß die Proportionen der Erde meist direkt vom Kartenbilde abgelesen werden, daß also die Weltkarte allgemein als eine der Wirklichkeit größenordnungsmäßig entsprechende Abbildung betrachtet wird, ja, daß ein Blick auf die Weltkarte geradezu der Prüfstein für die Übereinstimmung eigener Vorstellungen mit den tatsächlichen Größenverhältnissen von Ländern und Kontinenten ist. Bei der Benutzung der Weltkarte wird also ihre Verzerrung im allgemeinen nicht realisiert, die Karte also nicht relativierend betrachtet. Und selbst die wenigen, die sich einer Verzerrung der Erdkarte bewußt sind, sehen darin überwiegend ein von der Geographie gelöstes Fachproblem, das keine wesentliche Auswirkung auf die Größenordnungen der großen Staaten und Kontinente, sondern nur auf die Form einiger Pol-naher Länder haben kann. Die Verzerrung unseres geographischen Weltbildes ist also den Menschen ebensowenig bewußt wie die Verzerrung unseres historischen Weltbildes.
Daß hier, wie im Bereiche der Geschichte, die Verzerrung eine perspektivische ist, die den ANTEIL EUROPAS UND DES WEISSEN MANNES vergrößerte, stärkte mein Mißtrauen. Ich glaubte auch nicht mehr den Beteuerungen der Geographen, daß es nicht anders ginge, sondern suchte selbst nach den Ursachen unseres verzerrten Weltbildes und nach den Möglichkeiten zur Schaffung einer getreueren Wiedergabe der Erdoberfläche.
Bei der Überprüfung der verschiedenen Möglichkeiten zur Projektion einer Kugel auf eine Fläche stieß ich auch auf jene Versuche, eine größere Flächentreue durch Krümmung der Längengrade zu erreichen. Obwohl durch diese Nachahmung des Erdenrunds der Eindruck der Echtheit dieser Wiedergabe verstärkt wird, sind diese Karten, soweit sie in Atlanten verwendet werden, weder flächen- noch winkeltreu. Sie mildern nur die schlimmsten Verzerrungen ab, fügen aber dafür neue, schwerwiegende Fehler dem Kartenbilde hinzu, insbesondere sind nicht die Haupt-Himmelsrichtungen gewahrt, es stehen also geographische Punkte, die auf der Erde in der Nord-Süd-Achse liegen, hier in einem Winkel zueinander, der bis zu 90 Grad von der tatsächlichen Himmelsrichtung abweicht. Dieser Fehler wird bei flächentreuen Karten mit Meridiankrümmung so stark, daß diese keine praktische Verwendung gefunden haben. Aber auch gegen die vermittelnden Karten mit gekrümmten Längengraden ist die allgemeine Abneigung so groß, daß sich gegenüber allen diesen Zwittern die Mercatorkarte in Schulen, in öffentlichen Gebäuden, im Fernsehen, in der Presse, in der Statistik und im Bewußtsein der Menschen weitgehend behauptete.
Bei der Suche nach den Ursachen für die gefühlsmäßige Zurückweisung der gerundeten, vermittelnden Karten stellte ich fest, daß allgemein nicht die fehlende Winkeltreue vermißt wurde,. sondern nur die Rechtwinkligkeit. Wollte man also eine Karte schaffen, die zur endlichen Oberwindung der jahrhundertealten Mercatorkarte taugt, so mußte diese neue Karte rechtwinklig sein. Da RECHTWINKLIGKEIT mit der aus sachlichen Gründen gebotenen FLÄCHENTREUE vereinbar ist, war es klar, daß nur eine Erdkarte mit diesen beiden Eigenschaften weiterhelfen konnte. Es gab auch hier bereits Versuche von Geographen, die aber nicht überzeugt hatten und also der Vergessenheit anheimgefallen waren. Nur zwei solcher Versuche hatten eine größere Bedeutung erlangt: Der fast 200 Jahre alte Entwurf von Johann Heinrich Lambert und dessen Verbesserung durch Walter Behrmann im Jahre 1911. Aber die Verzerrung des europäischen Kontinentes ist auf beiden Karten so groß, daß ihr Vorteil der Flächentreue durch diesen Mangel überkompensiert wird. Dazu trat ein zweiter Fehler, der die allgemeine Benutzbarkeit ausschloß:
Das Verhältnis Höhe:Breite war 1:3 (Lambert) oder 1:2,4 (Behrmann). Eine Karte aber, auf der die Erdoberfläche in einem Kartenbilde wiedergegeben wird, das mehr als doppelt so lang wie hoch ist, paßt nicht in die Atlanten und paßt auch nicht in das auf den Goldenen Schnitt orientierte ästhetische Bewußtsein des Menschen.
Es galt also eine flächentreue Weltkarte zu erstellen, die rechtwinklig ist, die in ihren Proportionen dem Goldenen Schnitt nahekommt, und die auch die Länder Europas möglichst globus-getreu abbildet.
Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen gelangte ich zu einem brauchbaren Ergebnis, als ich mich entschlossen hatte, das alte Gradnetz beiseite zu legen: Ich teilte (unter Verlegung der Datumsgrenze in die Mitte der Beringstraße) die Erde einmal rund um den Äquator und einmal von Pol zu Pol in jeweils 100 Teile, drückte die so entstandenen Rechtecke am Äquator zu Quadraten zusammen und plattete die auf diesen Quadraten aufbauenden Rechtecke zu den Polen hin jeweils um so viel ab, daß ihre Grundfläche im Verhältnis zu den ersten Quadraten genau den wirklichen Proportionen der Erdoberfläche entsprach. Mathematisch ausgedrückt sah das so aus:
Auf der Grundlage dieser Formel entstand ein neues Bild unserer Erde:
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Hier stehen nun die Länder in ihren rechten Proportionen: Schweden ist nicht mehr gröl3er als Spanien, Kanada nicht mehr größer als Südamerika und die Sowjetunion nicht mehr größer als ganz Afrika. Auch die wirkliche Ausdehnung des indonesischen Inselreiches wird deutlich. Brasilien erscheint in seiner echten Proportion, wie die Heimat aller farbigen Völker hier in ihrer tatsächlichen Größe sichtbar wird. Betrachtet man auf dieser Karte etwa die Sowjetunion und China, so versteht man die politischen Probleme zwischen diesen beiden fast gleichgewichtigen Riesen. Freilich mußten für diese Vorteile absoluter Flächentreue, relativer Wohlproportioniertheit und vollständiger Rechtwinkligkeit Mängel in Kauf genommen werden. Dabei zählt die sich zunächst aufdrängende Nicht-Übereinstimmung dieses Bildes der Erde mit unserer alten Vorstellung nicht zu diesen Mängeln. Denn dieses uns liebgewordene Bild der Erde ist unhaltbar geworden in einem Augenblicke7,da die farbigen Völker in ihre Rechte getreten sind und ihre Länder endlich von uns wie von ihnen selbst in ihren echten Proportionen wahrgenommen werden müssen. Die wirklichen Mängel liegen in dem bedauerlichen Umstande, daß auch die neue, ORTHOGONALE ERDKARTE eine Verzerrung von Gebieten mit sich bringt, die in der Mercatorkarte globusähnlicher abgebildet waren. Wenn auch dagegen die Verzerrungen der Mercatorkarte in anderen Gebieten der Erde viel krasser sind, so daß man durch ein Festhalten an ihr insgesamt auch in dieser Hinsicht nichts gewinnen würde, so muß sich die neue Karte doch mit ihren zum Teil ungewohnten Formen erst durchsetzen. Bedenkt man aber, daß etwa Grönland auf der alten Weltkarte größer dargestellt war als das siebenmal größere Südamerika, dann wird man vielleicht bereit sein, die bei der neuen Erdkarte in Äquatornähe besonders ins Auge fallenden Verzerrungen in Kauf zu nehmen.
Wohlgemerkt: es handelt sich bei der Verzerrung auf der neuen Weltkarte - im Gegensatz zu derjenigen der alten Weltkarte - niemals um eine Verzerrung der Größenordnungen. Die Proportionen der Kontinente und Staaten untereinander stimmen genau. Nur die Form weicht in einigen Regionen der Erde mehr, in anderen weniger von den wirklichen Formen auf der Erde ab, wie bei allen Kartenprojektionen der gesamten Erdoberfläche. Dieser Mangel läßt sich aber in einem Atlas leicht korrigieren, weil auf dessen Einzelkarten mit der gleichen Projektion unter Beibehaltung vollkommener Flächentreue die Kontinente und Länder wesentlich formtreuer dargestellt werden können. Daß aber die Form unserer eigenen europäischen Heimat auf dieser neuen Erdkarte fast wirklichkeitstreu wiedergegeben ist, läßt mich hoffen, daß die europäischen Völker sich mit ihr abfinden. Daß die farbigen Völker es begrüßen werden, endlich eine Weltkarte zu besitzen, auf der sie selbst in der rechten Proportion und also mit ihrem echten, hinter ihrer Größe stehenden Potential in Erscheinung treten, scheint sicher.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin nicht für die Abschaffung der Mercatorkarte. Sie wurde vor 400 Jahren im Zeitalter der Entdeckungen geschaffen, damit die Seefahrer ihre Routen besser finden. Für sie war der Vorteil der Winkeltreue dieser Karte so wichtig, daß sie dafür alle Verzerrungen in Kauf nahmen, sogar die Verzeichnung der auch für sie wichtigen Entfernungen, die auf der Mercatorkarte häufig 100 Prozent beträgt (so erscheint etwa die Entfernung Moskau - Behringstraße auf der Mercatorkarte doppelt so groß wie die Entfernung Moskau - Ceylon, die in Wirklichkeit genau gleich groß ist. Ebenso verhält es sich mit den tatsächlich gleichen Entfernungen Aden-Buenos Aires und Aden - Alaska, die auf ihr wie 1:2 erscheinen). Wenn sich die Mercatorkarte trotz aller Nachteile bis heute gehalten hat, so muß ihr Wert für die Schiffahrt groß sein. Deshalb wird sie für diese Zwecke beibehalten werden, solange sie die Anforderungen der Seefahrt erfüllt als Spezialkarte, wie sie auch die Luftfahrt hat. Es ist aber nicht einzusehen, warum Nicht-Seeleute sich zur Orientierung über die Erde noch heute dieser und anderer ähnlich verzerrter Erdkarten bedienen.
Doch nicht nur unsere Erdkarten geben die Wirklichkeit in perspektivischer Verzerrung wieder, unsere ATLANTEN vertiefen dieses Zerrbild der Erde. Sie sind insgesamt EUROPA-ZENTRISCH. Kleine Länder wie die Schweiz (41.000 qkm) werden auf einer eigenen Doppelseite dargestellt, wenn sie den Vorzug haben, in Mitteleuropa zu liegen. Zehnmal größere außer-europäische Länder, wie Kamerun (475.000 qkm), muß man auf einer großen Übersichtskarte ("Afrika" oder "Nordafrika") suchen. Selbst ein 200mal größeres Land wie Brasilien (8.512.000 qkm), ist nicht auf einer eigenen Doppelseite dargestellt, sondern auf einer Übersichtskarte von Südamerika zusammen mit einem Dutzend anderer Staaten, oder es ist auf mehrere Teil-Übersichten von Südamerika verstreut.
Die außereuropäischen Staaten werden dabei in wesentlich kleinerem Maßstab dargestellt; auch kommen sie in ihrer Individualität nicht zur Anschauung. Dieser doppelte Mangel wird vom Benutzer aber nicht realisiert. So erscheinen die Staaten Mitteleuropas als selbständige SUBJEKTE EINER INDIVIDUALISIERENDEN ERDBETRACHTUNG, die übrigen Staaten aber als bloße OBJEKTE EINER GENERALISIERENDEN GEOGRAPHIE.
Wie aber sieht es nun mit den GESCHICHTS-ATLANTEN aus, die in gewisser Weise ein Bindeglied zwischen Geographie und Geschichte darstellen? Sie zeichnen sich durch DIE GLEICHE PERSPEKTIVISCHE VERZERRUNG aus wie unsere Geschichtsbücher, Atlanten und Erdkarten. Eine Analyse der historischen Atlanten vom guten alten Putzger und Spruner bis zu den neuen westdeutschen (Westermann) und ostdeutschen (Volk und Wissen) Geschichtsatlanten zeigen, daß durchschnittlich 56 Prozent der Karten der ausschließlichen Darstellung Europas und seiner einzelnen Staaten gewidmet sind, während nur 8 Prozent der Karten die übrigen vier Kontinente ohne Europa darstellen. Die restlichen 36 Prozent der Karten zeigen Europa mit Teilen der Welt. Dabei werden sie noch hauptsächlich als Objekte europäischer Eroberungspolitik dargestellt. Zudem ist der größte Teil unserer historischen Atlanten mit der Geschichte der letzten vier Jahrhunderte angefüllt (= Blütezeit Europas), während die vier Jahrtausende vorher, in denen die Grundlagen unserer Kultur vorwiegend in Asien und Afrika geschaffen wurden, nur in wenigen, ganz groben Zusammenfassungen behandelt werden (~ Blütezeit fast aller außereuropäischen Länder). Dieses geographische Weltbild ist geeignet, die Selbstüberschätzung des weißen Mannes, besonders des Europäers, zu verewigen und die farbigen Völker im Bewußtsein ihrer Ohnmacht zu halten. Außerdem bleibt die Geschichte Europas ohne die Kenntnis der Geschichte aller übrigen großen Kulturen der Erde unverständlich. Statt als Korrektiv der Disproportionalität in den allgemeinen Atlanten und Geschichtsbüchern zu wirken, unterbauen also unsere Geschichtsatlanten das enge perspektivisch verzerrte Weltbild. Schließlich muß noch erwähnt werden, daß 93 Prozent der Karten in den angegebenen historischen Atlanten eindeutig der politischen und Kriegs-Geschichte zugehören. So wird die Überschätzung der politischen Seite der Menschheitskultur auch von unserer historischen Geographie getragen und gefördert. Ein ganzheitliches Weltbild setzt aber die streng paritätische Behandlung ALLER LÄNDER, ALLER LEBENSBEREICHE UND DER GANZEN HISTORISCHEN ZEIT voraus. Diese grundlegende Veränderung unseres geographisch-historischen Weltbildes ist nicht von heute auf morgen zu verwirklichen - ihre Notwendigkeit wird aber durch die Weltentwicklung täglich zwingender.
Abschließend dürfen wir feststellen, daß die Überwindung der dreifachen perspektivischen Verzerrung der Wirklichkeit im geographisch-historischen Weltbilde der Gegenwart als Aufgabe erkannt ist, daß Wege zu ihrer Bewältigung gefunden sind, und daß es Menschen gibt, die bereit sind, die hierfür notwendigen Arbeiten zu leisten.
Ich danke Ihnen, daß Sie mir durch Ihre freundliche Einladung die Möglichkeit gegeben haben, Ihnen meine Arbeitserfahrungen, meine Anschauungen und meine Absichten mitzuteilen, und ich hoffe zuversichtlich, daß auch meine ungarischen Kollegen an den notwendigen Arbeiten zur Vertiefung und Verbreitung eines umfassenden und also wirklichkeitstreuen historisch-geographischen Weltbildes teilhaben werden.
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Datum der letzten Aktualisierung: 04. Januar 2003