Der Mathematiker
Die von Arno Peters geschaffene Erdkarte setzt einen
Markstein in der Entwicklung der wissenschaftlichen Kartographie, die ihren Anfang im 16.
Jahrhundert nahm. Das Wissen um die Kugelgestalt der Erde, das sich mit dem Durchbruch der
Renaissance allgemein durchgesetzt hatte, führte auch zur Entdeckung Amerikas und
dreißig Jahre später zur ersten Weltumsegelung. Eine kartographische Darstellung der
Erdoberfläche auf der Grundlage eines exakten Gradnetzes aus Meridianen und
Breitenkreisen war mit dem Anbruch des Zeitalters der Entdeckungen zum vordringlichen
Problem geworden, und zahlreiche Mathematiker und Kartenzeichner machten sich an die
Lösung dieser Aufgabe.
Die Seefahrer bedienten sich um diese Zeit noch der Plattkarte, die allerdings nicht als
Erdkarten, sondern als Karten begrenzter Gebiete verwendet wurden. Die quadratische
Plattkarte bildet den Äquator und alle Meridiane längentreu ab, während die rechteckige
Plattkarte außer den Meridianen statt des Äquators zwei Breitenkreise längentreu
abbildet (z.B. 30 Grad N und 30 Grad S) und damit statt einer formtreuen Zone deren zwei
aufweist. Für Seereisen über kürzere Distanzen, wie etwa im Mittelmeer, genügten diese
Plattkarten. Für Weltreisen erwiesen sie sich als unzureichend, weil in höheren Breiten
der Kurs des Schiffes (Winkel zwischen Meridian und Kielrichtung) darauf zu stark verzerrt
wurde. Denn der Seemann verband auf seiner Karte den Abfahrtsort durch eine gerade Linie
mit dem Zielort und las danach den zu steuernden Kurs als Winkel zwischen dem Meridian und
dieser Geraden ab. Über große, in höhere Breiten führende Distanzen stellte sich aber
heraus, daß der zu Beginn einer Reise eingeschlagene Kurs nicht zum vorgesehenen Zielort
führte. Diesem Übelstand wurde erst durch die Mercatorkarte abgeholfen. Der
Mercator-Entwurf, den Erhard Etzlaub schon um 1500 angewandt hatte, wurde durch Mercators
1569 geschaffene Seefahrerkarte allgemein eingeführt. Auch bei seiner Abbildung der
Erdoberfläche werden die Breitenkreise (wie bei jeder rechteckigen Karte) mit dem Faktor
1/cosPhi auseinandergezogen. Mercator verzerrte nun die Meridiane mit dem gleichen Faktor.
Auf seiner Erdkarte beschrieb er das selbst so: "In Erwägung dieser Umstände habe
ich die Breitengrade nach beiden Polen zu allmählich in demselben Verhältnis
vergrößert, wie die Breitenparalellelen in ihrem Verhältnis zum Äquator
zunehmen." Auf diese Weise erreichte Mercator, daß die für die Navigation so
wichtigen Loxodromen (Linien konstanten Kurses) in der Karte als Grade abgebildet werden.
Da das Abbildungsgesetz der Mercatorkarte vorschreibt, daß auch jedes kleinste Stück
eines Meridians mit dem Faktor 1/cosPhi der zugehörigen Breite vergrößert wird, hatten
die der höheren Mathematik unkundigen Seefahrer Schwierigkeiten beim Gebrauch der von
Mercator eigens für sie geschaffenen Karte. Erst als der Engländer Edward Wright 1599
seine Tafeln der Meridionalteile (vergrößerten Breiten) geliefert hatte, fand die
Mercatorkarte bald allgemeine Anwendung in der Seefahrt. Ihr Nutzen für die Navigation
machte ihre Verbreitung unausweichlich.
Daß sich die Mercatorkarte aber darüber hinaus allgemein als die Erdkarte durchsetzte
und bis in unser Jahrhundert behauptete, läßt sich nicht aus ihrem für die Seefahrt so
entscheidenden Merkmal erklären, daß allein auf ihr gradlinige Loxodromen alle Meridiane
unter gleichem Winkel schneiden. Die Mercatorkarte hatte also noch andere wichtige
Qualitäten, die sie auch für den allgemeinen Gebrauch gegenüber allen früheren
Erdkarten überlegen machte:
1) Lagetreue: Alle Orte gleicher geographischer Breite (und damit gleicher
Sonneneinstrahlung) liegen auf einer parallel zum Äquator verlaufenden Geraden. Diese
Qualität ist für alle Kartenaussagen, die mit Temperatur und Klima in Beziehung stehen
(und das trifft fast für die gesamte thematische Kartographie zu), unverzichtbar.
Außerdem sichert Lagetreue die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Ost-West-Richtung auf
einer waagerechten Geraden für die ganze Karte.
2) Achstreue: Auf der ganzen Karte werden alle Orte gleicher geographischer Länge auf
einer senkrechten Geraden abgebildet. Liegt also auf der Erde ein geographischer Punkt
genau nördlich über einem anderen Punkt, so liegt dieser auf der Karte genau lotrecht.
In Verbindung mit der Lagetreue sichert Achstreue eine unmittelbare Orientierung, ohne
daß die Linien des Gradnetzes erst mühsam gedanklich (oder mit dem Finger) verfolgt
werden müssen.
3) Klares Kartenbild: Alle Länder, Kontinente, Meere sind in Lage und Form deutlich
erkennbar, es gibt keine seitlichen Quetschungen oder Zerrungen: die bei der Übertragung
einer Kugeloberfläche auf die Kartenebene unvermeidliche Verzerrung ist niemals schief
sondern streng orthogonal erfolgt, also nur in gerader Nord-Süd oder Ost-West Richtung.
Die so gewonnene Klarheit des Kartenbildes ist nicht nur eine wichtige Kartenqualität,
sie spricht auch den Betrachter an, macht ihm die Karte angenehm.
4) Harmonische Form: Breite und Höhe der rechteckigen Karte stehen in einem ausgewogenen
Verhältnis zueinander, wie es vom Goldenen Schnitt' mathematisch definiert ist.
(Der kleinere Teil einer Strecke verhält sich zum größeren wie der größere zum
Ganzen.) Die rechteckige Form der Karte ist längst eine selbstverständliche
Voraussetzung ihrer Ausgewogenheit. Max Eckert schrieb schon 1921 in seiner
"Kartenwissenschaft" (S. 168) "Nehmen wir ein Kartenblatt zur Hand, ist es
uns etwas Selbstverständliches, daß es Rechteckform besitzt; unwillkürlich übertragen
wir bei einer Karte diese Form auf das eigentliche Kartenbild, das uns eben am meisten
behagt, wenn es die Form des Blattes wiederholt." Die harmonische Rechteckform
erfüllt vor allem eine ästhetische Forderung, deren Bedeutung für die Verbreitung einer
Karte nicht unterschätzt werden darf. Die Erdkarte, zunehmend auch Wandschmuck des
Gebildeten, muß dem Schönheitsempfinden des Menschen entsprechen.
Durch diese vier Qualitäten hat sich die Mercatorkarte im 16. Jahrhundert bald auch für
die allgemeine Unterrichtung vollständig durchgesetzt und hat seitdem das geographische
Weltbild geprägt, bis in unser Jahrhundert.
Betrachten wir die seit der Entdeckung Amerikas in großer Anzahl angefertigten Erdkarten,
wird uns der Siegeszug der Mercator-Karte verständlich: die Karte des Juan de la Cosa
(1500), des Contarini Roselli (1506), des Martin Waldseemüller (1507), des Hieronymus
Marini (1512), des Benedetto Bordone (1528), des Peter Apian (1530), des Sebastian
Münster (1532), des Orontius Finaeus (1536); diese Karten stimmen bei aller
Verschiedenheit darin überein, daß sie keine einzige der vier Qualitäten der
Mercatorkarte besitzen. Als die großartige Schöpfung des Mercator einmal da war, hielten
sie sich noch einige Jahrzehnte (und es gab auch heftige Angriffe gegen die
Mercatorkarte), aber Mitte des 16. Jahrhunderts hatte sich diese allgemein durchgesetzt.
Aber Mercator hatte alle großen Vorzüge seiner Erdkarte mit einem schwerwiegenden
Nachteil erkauft: Alle Flächen werden bei ihm mit dem Faktor 1/cosPhi vergrößert. Das
bedeutet: Gegen eine Fläche am Äquator erscheint eine Fläche auf dem 45. Breitenkreis
auf das Doppelte, auf dem 60. Breitenkreis bereits auf das Vierfache, auf dem 70.
Breitenkreis gar auf das 8,5fache vergrößert. Damit werden dem Betrachter
Flächenverhältnisse vorgetäuscht, die der Wirklichkeit nicht entsprechen. Wegen der zu
den Polen hin ins Unendliche wachsenden Verzerrung sind die Pole in der Mercatorkarte
zudem überhaupt nicht darstellbar. Man gibt auf der Mercatorkarte immer nur einen Teil
der Erdoberfläche wieder, der sich meist von etwa 75 Grad nördlicher Breite bis etwa 60
Grad südlicher Breite erstreckt. Dadurch erhält die nördliche Erdhälfte zwei Drittel
der Kartenfläche, und Europa rückt zu weit in die Mitte der Karte, was zu einem falschen
Weltbild führt.
Für Zwecke der Navigation fällt dieser schwerwiegende Mangel nicht ins Gewicht und die
Mercatorkarte wird ihre überragende Bedeutung für die Seefahrt behalten. Für Atlanten
und Wandkarten, für die allgemeine Information überhaupt, ist sie aber wegen der
genannten Nachteile ungeeignet.
Das sagten sich auch viele Kartographen der vergangenen drei Jahrhunderte, und sie schufen
Erdkarten, in denen die furchtbaren Flächenverzerrungen der Mercatorkarte beseitigt
(flächentreue Entwürfe) oder mindestens abgemildert (vermittelnde Entwürfe) wurden. So
entstanden die Erdkarten von Sanson (1650), Bonne (1752), Lambert (1772), Mollweide
(1805), Aitoff (1889), Hammer (1892), van der Grinten (1904), Behrmann (1910), Winkel
(1913), Goode (1923). Alle diese Erdkarten verminderten oder beseitigten also den
Grundfehler der Mercatorkarte: ihre entstellende Flächenverzerrung. Aber keine von ihnen
setzte sich gegen die Mercatorkarte durch, keine hatte auch eine echte Chance, weil keine
die entscheidenden vier Vorzüge der Mercatorkarte vereinte. Lambert und Behrmann
bewahrten Mercators Lagetreue und Achstreue, aber auch sie konnten wegen des Fehlens von
klarem Kartenbild und harmonischer Form kein einziges Mal in Atlanten oder Wandkarten die
Mercatorkarte verdrängen.
Mit der Entdeckung der Antarktis (die auf der Mercatorkarte nicht darstellbar ist) und der
Verselbständigung der äquatornahen Völker (die auf der Mercatorkarte ihrer wirklichen
Weltgeltung beraubt sind) wurde die Mercatorkarte aber in unserer Epoche zur allgemeinen
Unterrichtung ganz ungeeignet, und ihr europazentrischer Charakter setzte zudem die sie
weiter benutzenden Staaten dem Vorwurf kolonialer Gesinnung aus. Dadurch fanden seit Mitte
unseres Jahrhunderts auch andere Karten gelegentlich Verbreitung: Die Goode-Karte, die
ihre Flächentreue durch den Verzicht auf ein geschlossenes Kartenbild erkauft. Sie faßt
jeweils mehrere spitz zusammenlaufende Globussegmente zu größeren Lappen zusammen, die
Antarktis wird von ihr in vier Teile gestückelt auf vier getrennten Lappen abgebildet.
Die Winkel-Karte, die nicht flächentreu ist; als arithmetisches Mittel zwischen der
rechteckigen Plattkarte und Aitoffs Azimutalentwurf bestimmt, verbindet sie die Nachteile
dieser beiden Entwürfe unter Preisgabe ihrer Vorteile, insbesondere der Achs und
Lagetreue. Die van der Grinten-Karte, die nicht flächentreu ist, den Mangel der
Mercatorkarte nur unwesentlich abmildert, dafür deren Vorteile insgesamt opfert.
Aber: Keine dieser Karten konnte sich durchsetzen, und keine von ihnen hat auch eine
Chance, zu der einen verbindlichen Erdkarte zu werden, die die Mercatorkarte mehr als drei
Jahrhunderte lang war. Denn ihnen fehlen mindestens zwei der vier Qualitäten, die der
Mercatorkarte zum Durchbruch verhalfen und sie sich bis heute behaupten ließ: Lagetreue,
Achstreue, klares Kartenbild, harmonische Form.
Dem deutschen Historiker Arno Peters blieb es vorbehalten, eine Erdkarte zu schaffen, die
alle vier angeführten Qualitäten der Mercatorkarte erhält und diesen Eigenschaften jene
entscheidende Qualität hinzufügt, die der Mercatorkarte fehlte, und die in unserer
Epoche unverzichtbar geworden ist: Die Flächentreue.
Arno Peters gewann sein Netz nicht durch echte oder unechte Projektion (wie alle
bisherigen Kartennetzentwürfe entstanden sind) sondern auf einem ganz neuen Wege: Er
teilte die Erde rund um den Äquator in 100 Teile und ebenso die Meridiane zwischen
Nordpol und Südpol. So erhielt er am Äquator 100 Rechtecke, die genau doppelt so breit
wie hoch waren. Diese Rechtecke quadrierte er und baute darauf flächentreu die übrigen
Netzrechtecke, indem er deren Flächeninhalt jeweils durch die Basis teilte. Dieser
verblüffend einfache Netzentwurf (den man zur Unterscheidung von den bisherigen, an
Projektionsflächen orientierten "Projektionen" als "Konstruktion"
bezeichnen könnte) hat folgende mathematischen Merkmale: Breite zur Höhe verhält sich
wie 1,571:1, liegt also zwischen DIN Format (1,414:1) und Goldenem Schnitt (1,618:1). Die
unabweichlichen Formverzerrungen halten sich infolge einer gleichmäßigen
Fehlerverteilung in erträglichen Grenzen. Der Faktor der Längenverzerrung liegt
abhängig von der Richtung auf 00 Grad und 60 Grad Breite zwischen 0,707 und 1,414. Auch
diese Werte sind durchaus vertretbar. Durch die hier erstmalig vorgenommene Verzerrung der
Äquatorialzone im Verhältnis 1:2 wird dieser Verzerrungsgrad erst wieder am 60.
Breitenkreis (dort horizontal statt vertikal) erreicht. Auf diese Weise erfahren die
ständig bewohnten Gebiete der Erde nirgends eine größere Verzerrung als etwa 1:2, und
die am dichtesten besiedelten gemäßigten Zonen, deren möglichst wirklichkeitsnahe
Darstellung Geographen und Kartographen stets besonders am Herzen lag, sind fast oder ganz
formtreu und längentreu abgebildet.
Meines Erachtens bietet die Peters-Karte die optimale Lösung für eine Erdkarte unserer
Epoche. Durch ihre vollständige Überwindung des europazentrischen Charakters der
Mercatorprojektion, die sich bis zu van der Grinten und Winkel in abgewandelter Form
erhalten hatte, ist sie auch zur Verbreitung in der ganzen außereuropäischen Welt
geeignet und dürfte sich (da sie ohne Schwierigkeit auch im Ostasien-Schnitt und im
Amerika-Schnitt erstellbar ist) auch dort ebenso schnell durchsetzen wie in unserem
eigenen Land.
Unterschrift
(Professor Walter Buchholz)
Lehrstuhl für Navigation und Meteorologie
an der Hochschule für Nautik, Bremen
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Datum der letzten Aktualisierung: 25. Januar 2001