Der Publizist
I
Die Weltkarte ist zu allen Zeiten Ausdruck der Gesamtheit des
politischhistorischgeographischen Weltbildes ihrer Epoche gewesen, für die öffentliche
Meinungsbildung ein Supersymbol, unabhängig davon ob sie im Bewußtsein ihrer
symbolischen Bedeutung geschaffen und benutzt wird.
Die Jahrhunderte seit der Renaissance waren bestimmt durch die Expansion Europas über die
übrige Welt. Entdeckung, Unterwerfung, Ausbeutung waren die Stationen eines Weges, der in
unserer Epoche zu ende geht. Es waren die Jahrhunderte des "weißen Mannes", die
ihn zu Reichtum, Macht und Ansehen führten. Diese Jahrhunderte waren die Zeit der
Seefahrer. Ihre Mercator-Karte prägte bis in unsere Zeit hinein das geographische
Weltbild auf der ganzen Erde. Sie war das von allen Völkern angenommene Symbol
europäischer Weltgeltung. Die von den farbigen Völkern bewohnten Länder und Kontinente
waren auf dieser Karte wesentlich kleiner abgebildet, als er ihrer wirklichen Größe
entsprach; dagegen waren die Länder Europas und Nordamerikas größer dargestellt, als
sie in Wahrheit waren. Deutschland, Ursprungsland der Mercator-Karte, war mit dem übrigen
Europa in den alles beherrschenden Mittelpunkt der Welt gerückt, während es doch in
Wirklichkeit im obersten Viertel der Erde liegt. Zwei Drittel der Kartenfläche waren der
Darstellung der nördlichen Erdhälfte gewidmet, die südliche Erdhälfte wurde auf dem
restlichen Drittel zusammengedrängt. Die Mercator-Karte, von ihrem Schöpfer als
Seefahrerkarte geschaffen, reflektierte und leitete kolonialistisches Denken. Sie war
Symbol des Zeitalters europäischer Weltherrschaft. Wir alle erleben heute den
Zusammenbruch dieser Epoche, und wir erleben, wie mit ihr das sie tragende Weltbild
untergeht samt seinem Symbol, der Mercator-Karte.
Es trat ein, was Berdiajew in seiner Betrachtung über Rußland und Europa beschrieb:
"Die veraltete Symbolik geschichtlicher Gestaltung stürzt zusammen, die Menschheit
sucht nach neuen Symbolen, welche das auszudrücken vermögen, was in geistigen Tiefen
geschieht".
II
Die Welt ist auf der Suche nach neuer Selbstdarstellung. Dazu gehört ein
Kartenbild der Erde, das geeignet ist, der neuen Epoche Ausdruck zu geben. Die
Kartographen haben seit einiger Zeit ihre Bemühungen darauf gerichtet, bereits
vorliegende Kartenentwürfe an die Stelle der Mercator-Karte zu setzen. Man verwendete
Karten, die unter Abmilderung der schlimmsten Verzerrungen das alte Weltbild
grundsätzlich erhalten. Dabei rückten zwei Erdkarten nach vorne: Die heute von allen
deutschen Fernsehanstalten verwendete van der Grinten-Karte und die in Schulatlanten
verbreitete Winkel-Karte. Beide Kartenbilder geben die Länder und Kontinente nicht in
ihren wirklichen Größenverhältnissen wieder. Indem sie um die groben
Flächenverzerrungen der alten Weltkarte zu verringern, das bei Mercator gradlinige
Gradnetz runden und Europa in die Mitte des so entstandenen Ovals stellen, betonen diese
beiden Karten sogar die zentrale, weltbeherrschende Stellung Europas in gewisser Weise
noch stärker als das bei Mercator der Fall war. Das ist nicht verwunderlich, denn beide
Karten entstammen noch der kolonialen Epoche Europas: van der Grinten schuf seine Karte
1904, Winkel im Jahre 1913. Über die Oval-Symbolik hat C. G. Jung gleichzeitig
gearbeitet. So verewigen beide das europazentrische Weltbild im Jugendstil-Zeitalter. Sie
können deshalb nicht symbolischer Ausdruck der neuen Epoche sein, in die wir durch den 2.
Weltkrieg eingetreten sind. Ihr Programm heißt Gleichberechtigung der Staaten in einem
"Weltsyndikat" (Alfred Weber) durch Selbstbestimmung aller Völker.
III
Der Universalhistoriker Arno Peters hat in den letzten Jahren eine neue,
vollkommen flächentreue Erdkarte geschaffen. Sie kann mit ihrem streng paritätischen
Weltbild zum Symbol unserer Epoche werden. Zum ersten Mal kommt die überragende
geographische und damit politische Bedeutung der außereuropäischen Länder auf dieser
Weltkarte voll zur Geltung. Afrika und Südamerika treten hier zum ersten Male in ihrer
weltbeherrschenden Lage und Größe in Erscheinung. Dadurch wird das europazentrische
Weltbild in einer Weise korrigiert, die ein Zeichen setzt. Das neue Gesicht der Erdfläche
macht die Peters-Karte zu dem jedermann unmittelbar einsichtigen Symbol des neuen,
nachkolonialen Weltverständnisses, das sich heute verbreitet. Die Peters-Karte
ermöglicht ein neues, nachkoloniales Weltbild. Sie erzwingt seinen Durchbruch. So ist sie
als kraftvolles Symbol einer neuen Zeit auch Vehikel, an dem sich die heraufziehende
Epoche der Selbstbestimmung aller Völker und der Gleichberechtigung der Staaten im
"Weltsyndikat" orientieren kann. Ihrem aufklärenden Charakter entsprechend ist
die Peters-Karte eine maßvolle Lösung bei der Suche nach dem postkolonialen
Erdkartensymbol: Sie bringt keine Symbolumkehr. Sie stellt die Welt nicht auf den Kopf.
Genau das, im wahren Sinne des Wortes, könnten die um ihre Gleichberechtigung ringenden
farbigen Völker tun, wenn sie selbst das Symbol der Epoche ihrer Befreiung prägen. Denn
nicht nur in China war Süden immer am oberen Kartenrand. Auch die arabischen Karten
zeigten den Norden unten, und selbst europäischen Karten war bis zum Beginn der Neuzeit
diese Anordnung zu eigen, bei der Skandinavien am unteren Ende Europas hängt und Italien
nach oben zeigt.
Die Nordorientierung der Karte ist also auch Ausdruck des europazentrischen Denkens, wie
es mit dem kolonialen Zeitalter heraufzog. Sie ist uns aber längst genau so
selbstverständlich wie das alte, die farbigen Völker benachteiligende Kartenbild selbst.
Daß nun der Norden oben steht, ist von Bedeutung. Denn die Höhe einer Sache, einer
Person, eines Verhältnisses symbolisiert bei vertikal gedachten Wertsystemen deren
Überlegenheit über "weniger hohe" Personen, Sachen und Verhältnisse. So
begünstigt die Nordorientierung unserer Erdkarte die Bewohner der nördlichen Erdhälfte,
auch auf der Peters-Karte, die Europa dorthin zurückverlegte, wo es sich wirklich
befindet, und die es in seiner wirklichen Größe abbildet.
Die Europäer sollten auch diesen Vorteil der Peters-Karte erkennen, die wohl Europa aus
dem Mittelpunkt der Erde verbannt und die Größe des Kontinents auf das tatsächliche
Maß reduziert, aber ihre Stellung in der Welt grundsätzlich erhält. Verschließt sich
Europa dieser, als neues Symbol unserer Epoche überall in der Welt annehmbaren Erdkarte,
dann besteht die Möglichkeit, daß die nun selbständigen Länder der südlichen
Hemisphäre sich selbst als Symbol ihrer Gleichberechtigung eine Erdkarte mit
Südorientierung schaffen. Dadurch würde die Kommunikation erschwert, die
Völkerversöhnung behindert. Die Mercator-Karte war ungeachtet ihrer europazentrischen
Verzerrung durch ihre weltweite Verbreitung ein Stück internationa1er Gemeinsamkeit, und
es kommt darauf an, sie im Zeitalter universaler Kommunikation durch ein Symbol zu
ersetzen, das wiederum der ganzen Welt gemeinsam ist. . . diesmal allerdings aus freier
Entscheidung aller Staaten für diese neue Erdkarte.
Hierfür bietet sich heute allein die Peters-Karte an: Die außereuropäischen Gebiete
finden sich auf ihr gegenüber ihrer bisherigen Verdrängung in einem Maße sichtbar, das
ihrem wirklichen Umfang entspricht, und damit zugleich neuer nationalistischer
Überbewertung entgegenwirkt. Die Völker Europas können mit der Darstellung des
"alten Kontinents" auf der Peters-Karte auch zufrieden sein, denn ihre wirkliche
Größe und Lage ist erhalten. Europa ist (wie alle Länder der am meisten besiedelten
Zonen) formtreu abgebildet. Es bleibt in den oberen Quadranten des rechteckigen
Kartenbildes, auf welche die Aufmerksamkeit unserer auf rechteckige Formen bauenden Kultur
vor anderen gerichtet ist.
In einigen Ländern der Dritten Welt gibt es, nach dem Vorbild der ehemaligen
europäischen Kolonialmächte, Bestrebungen zur Schaffung eines Weltbildes von
nationalistischer Färbung, das analog zur van der Grinten-Karte oder Winkel-Karte das
eigene Land in den Mittelpunkt der Welt stellt. Setzt sich dieser kartographische
Konfrontationskurs durch, so haben wir am Ende so viele Erdkarten wie Länder, sicher aber
mehrere Karten, so daß wir keine verbindliche Erdkarte mehr besitzen. Das allen Völkern
gemeinsame Symbol der einheitlichen Weltkarte wäre dann endgültig verloren.
IV
Die Peters-Karte bietet nun in ihrer weltgeschichtlichen Perspektive der
Selbstdarstellungsbedürfnisse aller Völker der Erde die Möglichkeit, von allen Staaten
angenommen zu werden. Sie hat durch Verlegung des Nullmeridians von dem als Zentrum des
solange ein Viertel der Erde ausbeutenden England (Greenwich) auf die Datumsgrenze einen
vernünftigen und den berechtigten Interessen der außereuropäischen Völker
entsprechenden mutigen Schritt gemacht. Endlich hat sie die Einfärbung der ehemaligen
Kolonien in der Farbe ihrer Mutterländer abgeschafft, derzufolge Australien, Indien und
Kanada im englischen Rot erschienen, weil sie einmal unter englischer Herrschaft gestanden
haben. Die Peters-Karte geht in ihrer Farbgebung von geographischen Gegebenheiten aus: Sie
ordnet den Kontinenten eine Grundfarbe zu und stuft diese Farbe bei den einzelnen Staaten
nur ab.
Aus Europa stammend, von den Völkern der farbigen Welt schneller angenommen als in den
europäischen Ländern, ist die Peters-Karte auch ein Symbol der Übertragung
europäischer liberaler, sozialer, demokratischer Postulate auf die Erdbevölkerung unter
Bewahrung ihrer Eigenwertigkeit.
V
Schließlich sei noch auf die beispiellose Paßform der Peters-Karte für den
ebenfalls rechteckigen, mit einem planvollen Netz von Quadranten funktionierenden
Fernsehschirm hingewiesen, dessen Prinzip sie voll entspricht im Gegensatz zu den
gerundeten Karten, die jetzt vom Fernsehen benutzt werden.
Die zunehmende Verwendung von Karten zur Illustration gesprochener Meldungen macht die
Verzerrung der konkreten Raumverhältnisse durch die Fernsehkarten immer unhaltbarer.
Flächentreue ist ein Gebot der publizistischen Sorgfaltspflicht.
Im Zeitalter weltweiter Kommunikation ist das Fernsehen mit seiner alltäglich
erdumrundenden Berichterstattung auf das neue präsentative Symbol unserer Erde geradezu
angewiesen. Es erscheint deshalb hohe Zeit, die Peters-Projektion für das Fernsehen zu
übernehmen. Es geht nicht an, daß das Medium, das durch seine Möglichkeit,
audiovisuelle Symbole in jedes Haus zu funken, und das überdies die Autorität des
kalendarischen Rituals mit seinen kosmologischen Bezügen für sich hat, weiterhin Karten
verwendet, die ein unzutreffendes Bild der Erde vermitteln. Die erst vor wenigen Jahren
erschienene Peters-Karte setzt sich in der Welt schon überall dort durch, wo ernst
gemacht wird mit der Überwindung des jahrhundertealten europazentrischen Weltbildes, vor
allem im ökumenischen und im Bereich der Institutionen des "Weltsyndikats". Das
bestätigt die Einsicht, die wir Ernst Cassirer verdanken: "Der Moment, in dem
irgendein einzelner sinnlicher Eindruck symbolisch gebraucht und als Symbol verstanden
wird, ist immer wie der Aufbruch eines neuen Weltentages."
Arno Peters hat mit seiner "Synchronoptischen Weltgeschichte" im sprachlich-diskursiven
Bereich und nun mit der Peters-Projektion im präsentativen Symbolismus entscheidende
Erkenntnishilfen gegeben.
Unterschrift
(Prof. Dr. Henry Pross)
Lehrstuhl für Publizistik
an der Freien Universität Berlin
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Datum der letzten Aktualisierung: 14. Februar 2001