Arno Peters
Der europa-zentrische Charakter unseres geographischen Weltbildes und seine Überwindung
Wortlaut eines Vortrages, den der Verfasser am 30. Oktober 1974 auf Einladung der Deutschen Gesellschaft für Kartographie in Berlin gehalten hat.
Copyright 1976 by W. Größchen-Verlag, Dortmund ISBN 3-8087-0500-0 Alle Rechte vorbehalten
Liebe Kollegen, meine Damen und Herren,
ich danke der Deutschen Gesellschaft für Kartographie, daß sie mir durch ihre Einladung
Gelegenheit gibt, in meiner Heimatstadt Berlin vor fachkundigen Spezialisten darüber zu
sprechen, aus welchem Grunde ich eine neue Erdkarte entwickelt habe, und warum diese Karte
so aussieht, wie sie nun vor Ihnen liegt.
Hier in Berlin kristallisierte sich vor drei Jahrzehnten meine grundsätzliche Kritik an
unserem historisch-geographischen Weltbilde. Es war die Auflehnung eines Studenten dieser
Stadt gegen die Enge unseres Europa-, ja Deutschland-bezogenen Weltbildes, die Ahnung von
dessen Unvereinbarkeit mit der in unserer Epoche gebotenen Weite ganzheitlicher
Betrachtungsweise von Welt und Leben.
Unter Anwendung kartographischer Methoden, insbesondere durch eine maßstabgetreue
räumliche Darstellung der Zeit selbst, habe ich zunächst unser historisches Weltbild
durch paritätische Einbeziehung aller Kulturen der Erde, aller Lebensbereiche und aller
Epochen zu universaler Weite geführt. Meine "Synchronoptische Weltgeschichte"
überwand die Betrachtung der Geschichte der Welt aus der Perspektive Europas durch die
Betrachtung Europas aus der Perspektive der Welt und ihrer Geschichte.
Angesichts der Eingebundenheit unseres Weltbildes in Zeit und Raum war aber diese rein
historisch begründete Korrektur unseres Bewußtseins eine Halbheit. Als ergänzender
Schritt legte sich die Richtigstellung unseres geographischen Weltbildes nahe, das in
analoger Weise verzerrt ist.
Die vorliegenden Atlanten sind insgesamt europa-zentrisch: Kleine Länder wie die Schweiz
(41 000 qkm) werden auf einer eigenen Doppelseite dargestellt, wenn sie den Vorzug haben,
in Mitteleuropa zu liegen. Zehnmal größere außer-europäische Länder wie Kamerun (475
000 qkm) muß man auf einer großen Übersichtskarte (Afrika oder Nordafrika) suchen; und
selbst ein 200mal größeres Land wie Brasilien (8512 000 qkm) ist nicht auf einer eigenen
Doppelseite dargestellt, sondern auf einer Übersichtskarte von Südamerika zusammen mit
einem Dutzend anderer Staaten, oder es ist auf mehrere Teil-Übersichten von Südamerika
verstreut.
Die außereuropäischen Staaten sind dabei in wesentlich kleinerem Maßstab gezeichnet,
auch kommen sie in ihrer Individualität nicht zur Anschauung. Dieser doppelte Mangel wird
vom Benutzer zudem meist nicht realisiert. Dadurch erscheinen die Staaten Mitteleuropas
als selbständige Subjekte einer individualisierenden Erdbetrachtung, die anderen Staaten
der Erde aber als bloße Objekte einer generalisierenden Geographie.
Statt als Korrektiv der so geschaffenen Disproportionalität zu wirken, unterbauen unsere
Geschichtsatlanten dieses europazentrische Weltbild: Der überwiegende Teil ihrer Karten
stellt die Geschichte Europas dar, während die übrigen 14/15 der Erde mit ihrer
Geschichte auf wenigen Seiten zusammengedrängt und dabei noch hauptsächlich als Objekte
europäischer Eroberungspolitik dargestellt sind, vom Alexanderzug über das römische
Imperium bis zu den kolonialen Kriegen der letzten Jahrhunderte. Zudem ist der größte
Teil unserer historischen Atlanten mit den Entwicklungen der letzten vier Jahrhunderte
angefüllt (= Blütezeit Europas), während die vier Jahrtausende vorher, in denen die
Grundlagen unserer Kultur vorwiegend in Asien und Nordafrika geschaffen wurden, nur in
wenigen, ganz groben Zusammenfassungen behandelt werden (= Blütezeit fast aller
außereuropäischen Länder).
Dieses geographische Weltbild ist geeignet, die Selbstüberschätzung des weißen Mannes,
besonders des Europäers, zu verewigen und die farbigen Völker im Bewußtsein ihrer
Ohnmacht zu halten.
Die Forderung nach einem universalen Weltbilde ist keine Absage an Heimatkunde und
Nationalgeschichte, die beide ihren Platz im pädagogischen Stufengefüge haben. Aber
Heimatkunde und Nationalgeschichte können Erdkunde und Weltgeschichte nicht ersetzen,
sondern nur ergänzen, - wie sie ihrerseits der Ergänzung durch Werke mit einer
paritätischen Darstellung aller Länder der Erde und ihrer Geschichte bedürfen.
Wie aber steht es mit dem Abbild der Erde selbst, mit unserer Weltkarte? Sie ist
signifikanter Ausdruck unseres geographischen Weltbildes - sie schreibt es fort von
Generation zu Generation ... bis sie in Gegensatz zu unserem allgemeinen, in ständiger
Entwicklung sich befindenden Weltbild gerät und sich schließlich anpaßt. So hat sich
die Erdkarte mit dem Weltbilde gewandelt, seit Hekataios und Eratosthenes ihre Erdkarten
schufen, teils dem gewandelten Weltbilde folgend, teils die notwendige Wandlung selbst
vorantreibend.
Dabei stellte sich mit zunehmender Genauigkeit der Karten immer drängender die Frage,
welcher der beiden - in einer Erdkarte nicht zu vereinenden - Grundqualitäten der Vorrang
gebührt: der Flächentreue oder der Winkeltreue. Bis ins 16. Jahrhundert hinein suchten
die Kartenmacher größte Flächentreue mit größter Winkeltreue zu verbinden. Aber diese
"vermittelnden" Karten, die weder flächentreu noch winkeltreu sein können,
wurden im 16. Jahrhundert durch eine Projektion abgelöst, die eine der beiden Qualitäten
absolut setzte. Der aus Flandern stammende Duisburger Kartograph Mercator (Gerhard Kremer)
schuf 1569 eine Karte von vollkommener Winkeltreue (Karten 1, 2, 3, 4, 5, 6). Für die konsequente
Verwirklichung dieser einen Eigenschaft verzichtete er vollständig auf Flächentreue und
nahm damit so schreckliche Verzerrungen von Größe, Form und Lage der Länder und
Kontinente hin, daß seine Karte zunächst einhellig abgelehnt wurde. Er selbst verwendete
für seinen Atlas deshalb eine andere Erdkarte. Aber dreißig Jahre nach seinem Tode hatte
sich seine winkeltreue Erdkarte durchgesetzt.
Im Zeitalter der Entdeckungen und eines weltweiten Kolonialverkehrs bei der Navigation von
größtem Wert, wurde im 17. Jahrhundert diese Seefahrerkarte zur allgemein-benutzten
Erdkarte. Dabei mag der Umstand förderlich gewesen sein, daß die Verzerrungen dieser
Karte spezifischer Art waren: Mercator hatte seine Wahlheimat Deutschland (tatsächlich im
nördlichen Viertel der Erde gelegen) mit ganz Europa in die Kartenmitte gerückt. Die von
Weißen bewohnten Weltgegenden waren viel größer dargestellt als die übrige Welt. Die
von farbigen Völkern bewohnten Länder und Kontinente erschienen dagegen viel kleiner,
als sie in Wirklichkeit waren.
Einige Beispiele mögen das veranschaulichen: Europa erscheint mit seinen 9,7 Millionen
Quadratkilometern auf der Mercatorkarte etwa ebenso groß wie Südamerika, das mit rund 18
Millionen Quadratkilometern in Wirklichkeit fast doppelt so groß ist (Karte 7). Die Sowjetunion steht bei Mercator
beherrschend über der asiatisch-afrikanischen Welt, ist aber in Wahrheit mit ihren 22,4
Millionen Quadratkilometern wesentlich kleiner als allein Afrika, das 30 Millionen
Quadratkilometer umfaßt (Karte 8).
Skandinavien sieht auf der Mercatorkarte größer aus als Indien, das aber mit seinen 3,3
Millionen Quadratkilometern genau dreimal so groß ist wie Skandinavien (1,1 Millionen
qkm) (Karte 10). Grönland mit seinen 2,1
Millionen Quadratkilometern scheint um ein Mehrfaches größer als China, das aber in
Wirklichkeit mehr als viermal so groß ist (9,5 Millionen Quadratkilometer) (Karte 11).
Der Äquator teilt bekanntlich die Erde in zwei gleiche Hälften. Auf der Mercatorkarte
aber liegt der Äquator so tief, daß 2/3 seiner Karte der Darstellung der nördlichen
Erdhälfte dienen, während für die südliche Erdhälfte nur 1/3 der Kartenfläche
übrigbleibt (Karte 9). Auf der von Mercator
selbst geschaffenen Erdkarte waren 63 % für die nördliche Erdhälfte da; ebenso ist das
Verhältnis bei der neuen Iro-Weltkarte. Bei der Philips-Erdkarte sind es sogar 67 %, bei
der Erdkarte von Freytag-Berndt-Artaria 65 %.
Zur Rettung der Mercatorkarte ist nun auch schon der Versuch gemacht worden, den Äquator
in die Kartenmitte zu verlegen. Bildet man dabei beide Erdhälften bis zum 80.
Breitenkreis ab, so fehlt die Nordspitze Grönlands und Spitzbergens sowie das Grant-Land
und das Franz-Josefs-Land.
Wählt man aber im Norden und Süden einen Punkt, der die Abbildung ganz Grönlands
erlaubt (84. Breitenkreis), so nimmt die Karte ein quadratisches Format an, und die
Antarktis (obwohl erst zum kleineren Teil abgebildet) ist zum größten Kontinent der Erde
geworden. Die spezifische europazentrische Verzerrung der Staatenwelt ist zudem auf keiner
der beiden so veränderten Mercatorkarten korrigiert.
Ein Vergleich einzelner Länder bestätigt diesen Hauptfehler der Mercatorkarte: Italien
erscheint auf ihr ebenso groß wie das in Wirklichkeit mehr als doppelt so große Somalia (Karte 13), Großbritannien
hat die Größe des tatsächlich mehr als doppelt so großen Madagaskar (Karte 12), Frankreich erscheint fast größer als
Niger, das in Wahrheit mehr als zweimal so groß ist (Karte
14). Schweden wirkt gar doppelt so groß wie Ägypten, tatsächlich aber
umgekehrt Ägypten mehr als doppelt so groß wie Schweden (Karte
15).
Immer sind es also die Länder der "dritten Welt", wie wir heute sagen, die
Länder der früheren Kolonialvölker, der farbigen Völker, die auf der Mercatorkarte zu
kurz kommen. So ist diese Karte Ausdruck der Epoche der Europäisierung der Erde, der
Epoche der Weltherrschaft des weißen Mannes, der Epoche der kolonialen Ausbeutung der
Erde durch eine Minderheit gutbewaffneter, technisch überlegener, rücksichtsloser,
weißer Herrenvölker ... Diese Epoche aber darf nicht verewigt werden durch Festhalten an
dem von ihr geschaffenen und ihr zugehörigen geographischen Weltbilde, wie es der
Mercatorkarte zu Grunde liegt.
Es geht aber nicht nur um die Mercatorkarte, sondern um alle Erdkarten, die das von
Mercator geprägte geographische Weltbild fortschreiben. Dazu gehören außer der
Mercatorkarte selbst zahlreiche Erdkarten, die nur die schlimmsten Verzerrungen der
Mercatorkarte abmildern, um deren Erbschaft anzutreten, ohne das ihr zugrundeliegende
Weltbild zu verändern:
Solche mercator-ähnlichen Karten (von denen die van-der-Grinten-Projektion heute wohl die
verbreitetste ist) will ich hier unter dem Namen " Pseudo-Mercator"
zusammenfassen (Karten 16, 17, 18,
19, 20, 21). Sie lassen sich leicht daran erkennen, daß Grönland auf ihnen
größer erscheint als das in Wirklichkeit anderthalbmal so große Arabien. Für alle
"Pseudo-Mercators" gilt das gleiche, wie für die Mercatorkarte selbst: Sie
passen nicht mehr in unsere nach-koloniale Zeit, in eine Epoche internationaler
Verständigung, universaler Gleichberechtigung und weltweiter Kommunikation. Sie stellen
zudem kartographisch eine Verschlechterung gegenüber der Mercatorkarte dar, denn sie
geben deren wesentliche Vorzüge (Winkeltreue und rechtwinkliges Gradnetz) preis, ohne
ihren entscheidenden Fehler (die europazentrische Verzerrung) zu beseitigen.
Daß Mercator-Karten und Pseudo-Mercator-Karten noch immer unser geographisches Weltbild
prägen, steht leider außer Zweifel. Die hier gezeigten Erdkarten deutscher und
ausländischer Kartenhersteller (Iro, Bartholomew, FaIk, Freytag-Berndt, Philip, Rand
McNally, Ravenstein, Hallwag, Kümmerly & Frey, Stuttgarter Missions-Verlag, Perthes,
Mair) belegen es (Karten 1, 2, 3, 4, 5, 6, 16, 17, 18, 19, 20, 21). Die
zentrale Karten-Vertriebsstelle der Bundesrepublik (Geocenter) antwortete unter dem 2. 1.
1974 auf eine Anfrage, in welchem Maße Mercatorkarten und mercator-ähnliche Karten heute
noch den Kartenmarkt beherrschen: "etwa 99 Prozent". Im großen
Readers-Digest-Atlas finden wir das alte Bild der Erde ebenso unverändert wie im kleinen
Taschenatlas von Haack (Karten 27,
22). Wenn Sie die Erdkarte der Tagesschau des Deutschen Fernsehens
betrachten, es ist das alte Weltbild (Karte 24).
Wenn Sie beim Lehrmittelverlag Westermann einen Erdkarten-Stempel für Schulen
(Äquatorial-Maßstab 1:175 000 000) bestellen, erhalten Sie natürlich die Mercator-Karte
(Karte 25); und wenn die Deutsche Bundespost
über die Luftposttarife unterrichtet, bietet sie Ihnen die Welt in der
Mercator-Projektion dar (Karte 26), und wenn
ausländische Staatsmänner im Großen Sitzungssaal des Auswärtigen Amtes in Bonn
Verträge mit der Bundesrepublik unterzeichnen, hängt über ihren Köpfen die alte
Erdkarte aus der Kolonialzeit (Karte 23).
Es stellt sich nun die Frage, ob die Öffentlichkeit an diesem falschen Weltbilde
festhält, weil ihr dessen Verzerrung der Wirklichkeit nicht bekannt ist, oder ob sie an
diesem Weltbilde hängt, weil sie sich durch ein künstlich vergrößertes, in den
Mittelpunkt der Welt manipuliertes Europa über den tatsächlichen Verlust der
weltbeherrschenden Stellung Europas täuschen will.
Eine im Jahr 1968 durchgeführte Meinungsumfrage hat klargestellt, daß 94 % das Bild der
Erde, wie es von der Mercatorkarte und von Pseudo-Mercator-Karten dargeboten wird, für
die tatsächliche, unverzerrte Wiedergabe der Erde halten. 5 % wußten davon, daß die
kugelförmige Erde nicht verzerrungsfrei auf eine Zeichenebene übertragen werden kann,
hielten das aber für ein kartographisches Spezialproblem und gingen davon aus, daß -
abgesehen von einigen Verzerrungen in den Polargebieten - ein wirklichkeitstreues Bild der
Erde dargeboten wird. Nur 1 % zeigte sich über die entstellenden Verzerrungen der Erde
auf der Mercatorkarte wirklich informiert. Damit war klar, daß nicht ideologische
Absicht, sondern Informationsmangel die eigentliche Ursache für die Fortschreibung
unseres überholten geographischen Weltbildes ist.
Aber gab es denn eine Alternative zu dem von der Mercator-Karte und den
Pseudo-Mercator-Karten geprägten falschen geographischen Weltbild? - Als ich mir diese
Frage vorlegte, beschäftigte ich mich mit der Vorbereitung eines Atlasbandes zu meiner
"Synchronoptischen Weltgeschichte". Es war für mich klar, daß nur eine
flächentreue Erdkarte dafür in Betracht kam, denn ich wollte ja den europazentrischen
Charakter unseres geographischen Weltbildes nicht abmildern, sondern überwinden. So
schieden vermittelnde Kartenentwürfe aus.
In Lehrbüchern der Kartographie fand ich eine erstaunlich große Zahl flächentreuer
Entwürfe, die aber nur selten - und dann nur für spezielle Karteninhalte - in Atlanten
Eingang gefunden hatten. Als Einzelkarten oder Schul-Wandkarten wurden sie überhaupt
nicht angeboten. Mit der Flächentreue allein war es also offenbar nicht getan. Es mußten
weitere Eigenschaften hinzutreten, wenn eine Erdkarte allgemein akzeptiert werden sollte,
denn alle Lehrbücher der Kartographie waren darüber einig, daß flächentreue Erdkarten
den nicht flächentreuen vorzuziehen sind.
Eine Prüfung der im Prinzip seit Jahrhunderten bekannten und in mehreren Varianten
vorliegenden flächentreuen Erdkarten (Sanson, Bonne, Lambert, Hammer, Behrmann, Goode) (Karten 28, 29, 30, 31, 32, 33)
zeigte, daß der Vorzug der Flächentreue überall durch andere schwere Mängel erkauft
war. Schon das äußere Kartenformat sprach nicht an, vor allem fehlte es aber an einem
klaren Kartenbilde: Teile der Erde waren bis zur Unkenntlichkeit zusammengequetscht,
Norden lag nicht über Süden, gerundete Meridiane erschwerten die Orientierung; und bei
den beiden flächentreuen Entwürfen mit rechtwinkligem Gradnetz war Europa so
zusammengedrückt, daß sie schon deshalb ausschieden.
Es war also nicht nur ein Mangel an Information über die schwerwiegenden Fehler unserer
herkömmlichen Erdkarte für deren kritiklose Fortschreibung verantwortlich - es fehlte
eine echte Alternative zur Mercatorkarte: eine flächentreue, insgesamt der Mercatorkarte
überlegene Erdkarte.
Auf allen vorliegenden flächentreuen Erdkarten war eine partielle Überlegenheit
(nämlich die Flächentreue) durch schwere Mängel im Kartenbllde überkompensiert. So war
es verständlich, daß sich keine dieser flächentreuen Karten bisher gegen die
Mercatorkarte hatte durchsetzen können. Andererseits war dieses Scheitern wiederum die
Bestätigung der Untauglichkeit all dieser Entwürfe zur Oberwindung des überholten
geographischen Weltbildes.
Es galt also, eine Karte zu schaffen, die alle für den allgemeinen Gebrauch wesentlichen
Vorzüge der Mercatorkarte festhielt und weitere Qualitäten, insbesondere die
Flächentreue, hinzufügte.
Ich begann einen Katalog jener Qualitäten aufzustellen, die in der neuen Erdkarte
vereinigt sein müssen:
1. Flächentreue
Sie allein sichert die in unserer Epoche gebotene paritätische Behandlung aller Länder
der Erde; die so in ihrer wahren Größe dargestellt, unmittelbar miteinander vergleichbar
und in ihrer geographischen Bedeutung eindeutig erkennbar werden. Auch ist die
Flächentreue Voraussetzung für die Verwendung einer Erdkarte in der thematischen
Kartographie, die auf diese Qualität nur dann verzichtet, wenn Klima- oder Zeitzonen für
eine Kartenaussage noch wichtiger sind als Flächentreue.
Eine Karte mit absoluter Flächentreue kann nicht zugleich völlig abstandstreu sein.
Aber: Sie braucht auch nicht völlig auf Abstandstreue zu verzichten. Denn unter dem
Begriffe "Abstandstreue" werden zwei Karten-Qualitäten zusammengefaßt: a)
Entfernungstreue auf den Meridianen; b) Wiedergabe aller vom Äquator gleich weit
entfernten geographischen Punkte auf einer zum Äquator parallel laufenden Geraden. Diese
letzte Qualität ist für eine allgemeine Erdkarte das Kernstück der Abstandstreue, denn
sie entscheidet über die Verwendbarkeit einer Erdkarte für Karteninhalte mit
klimagebundenen Aussagen. Deshalb habe ich diese partielle Abstandstreue unter der
Bezeichnung
2. Lagetreue
in den Katalog der für eine Erdkarte unabdingbaren Qualitäten aufgenommen, nicht aber
die Entfernungstreue auf den Meridianen. Diese erschien als Teil einer auf der ganzen
Erdkarte grundsätzlich nicht zu verwirklichenden Qualität (Entfernungstreue)
verzichtbar.
Absolute Winkeltreue, für die Seefahrt noch immer eine notwendige Karteneigenschaft, ist
für eine allgemeine Weltkarte leichter entbehrlich, wenn durch Lagetreue die
Ost-West-Richtung naturgetreu erhalten ist. Indes beinhaltet die Winkeltreue noch eine
Eigenschaft, deren Fehlen auch eine allgemeine Erdkarte entwertet: die naturgetreue
Wiedergabe der Nord-Süd-Richtung. Unser geographisches Bewußtsein setzt nun einmal
voraus, daß bei jeder Karte Norden am Kopf der Karte liegt und lotrecht über dem Süden
steht. Karten mit gerundeten Meridianen finden keinen Anklang, weil sie die
Nord-Süd-Orientierung erschweren. Natürlich kann man die Nord-Süd-Richtung auch bei
gerundetem Gradnetz verfolgen, wenn die Meridiane ausgezogen sind. Aber diese für das
Verständnis gerundeter Karten unerläßliche gedankliche Umsetzung erschwert den
unmittelbaren Zugang zum Karteninhalt.
Außerdem führt das gerundete Gradnetz zu schrägen Verquetschungen der Landmassen, deren
Formen dadurch verfremdet werden. Aus diesen Gründen ist
3. Achstreue
für eine Erdkarte unerläßlich. Gemeinsam mit der Lagetreue sichert sie Winkeltreue in
den Haupthimmelsrichtungen (Nord-Süd und Ost-West), wodurch eine unmittelbare
Orientierung gegeben ist.
Durch Hinzufügung von Achstreue und Lagetreue zur Flächentreue ist eine Karte bestimmt,
die sich praktisch für alle Inhalte der thematischen Kartographie eignet. Durch diese
drei Qualitäten ist die geforderte Karte mathematisch weitgehend festgelegt.
Es gibt aber noch drei ästhetisch-praktisch-inhaltliche Forderungen, die nicht
zwangsläufig mit diesen Qualitäten verbunden sind. Sie müssen deshalb in den Katalog
aufgenommen werden.
Nach dem heutigen Erkenntnisstande gehört zu einer Erdkarte, daß der ganze Erdball auf
ihr abgebildet ist. Zu Mercators Zeiten, als Australien und die Antarktis noch nicht
entdeckt waren und Grönland wie Kanada und Nordsibirien noch unerforscht, mochte eine
Erdkarte genügen, die durch ihr Konstruktionsprinzip grundsätzlich unfähig ist, die
Erde bis zu den Polen hin zur Anschauung zu bringen. Heute aber ist die Vollständigkeit
der Abbildung der gesamten Erdoberfläche, die
4. Totalität
für eine moderne Erdkarte zu einer unabweisbaren Forderung geworden. Diese Qualität
schließt zugleich aus, daß einzelne Teile der Erdoberfläche auf der Karte mehrfach
abgebildet werden.
Nicht weniger wichtig ist es, daß die geforderte Erdkarte in ihrer äußeren Form unserem
Schönheitsempfinden entspricht. Die Abmessungen der nach ihren mathematischen
Erfordernissen notwendig rechtwinkligen Karte müssen den Proportionen des Goldenen
Schnitts sowie des an ihm orientierten, aber nicht mit ihm zusammenfallenden DIN-Formats
nahekommen. Diese
5. Proportionalität
ist in ästhetischer wie in praktischer Hinsicht von einer nicht zu unterschätzenden
Bedeutung.
Schließlich ist die Unverwechselbarkeit einer Erdkarte für ihre Durchsetzung und
Behauptung wesentlich. Diese
6. Originalität
wird dadurch bezeichnet, daß ihr Konstruktionsprinzip grundsätzlich nur die Erstellung
einer einzigen Erdkarte erlaubt. Die Mercator-Karte verdankt auch dieser Einzigartigkeit
ihre beherrschende Stellung. Hätte man ohne Verletzung ihres Konstruktionsprinzips die
gemäßigten Zonen stauchen, oder die verhältnismäßig zu klein geratenen äquatorialen
Gebiete vergrößern können, es wäre geschehen - und dann hätte es nicht mehrere
verbindliche Erdkarten gegeben, sondern gar keine. Daß aber eine einzige Erdkarte das
geographische Weltbild prägt, ist noch heute erstrebenswert. Die kartographische
Lehrmeinung, daß jeder darzustellende Karteninhalt seine eigene, für ihn günstigste
Projektion erfordere, gilt für Erdkarten nur, solange die von der thematischen
Kartographie geforderten Eigenschaften nicht insgesamt in einer Karte vereinigt sind. Denn
in Wahrheit ist jede Erdkarte ein Stück thematische Kartographie, auch die politische und
die physikalische Erdkarte ... und das Nebeneinander verschiedener Projektionen ist ein
Mangel, der nicht ohne Not beibehalten werden sollte.
Durch die drei mathematischen und die drei praktischen Qualitäten ist die geforderte
Erdkarte weitgehend bestimmt. Daneben gibt es aber noch allgemeine Kriterien, die ihren
Eigenwert besitzen und die Verwendbarkeit einer Erdkarte beeinflussen.
Sehr wesentlich ist die Eignung einer Erdkarte zur Abtrennung ganzer Erdpartien auf der
linken Kartenseite und ihrer leichten Wieder-Anfügung am rechten Kartenrande (und
umgekehrt), also die
7. Ergänzbarkeit des Karteninhalts
Erst durch sie ist es ohne Umstände möglich, Europa und Afrika aus der Kartenmitte
heraus an den Kartenrand zu verlegen und andere Kontinente in die Kartenmitte zu stellen,
- was legitim, ja geboten erscheint. Schon heute findet man in den USA häufig Erdkarten
mit Amerika als Mittelpunkt, während in Japan und in Australien häufig Europa und Afrika
am linken, Amerika am rechten Kartenrande sich findet. Diese beliebige Ergänzbarkeit ist
auch dann von Wert, wenn man sich ihrer nur als Denkmodell bedient, zur Sichtbarmachung
der Tatsache, daß die Plazierung unseres Kontinentes in der Kartenmitte nicht
naturgegeben ist. Auch läßt sich die überwältigende Größe des Pazifischen Ozeans
(der auf unserem herkömmlichen Kartenbild halbiert wird und zur Hälfte am rechten und
zur anderen Hälfte am linken Kartenrand erscheint) nur von einer Erdkarte ablesen, bei
der Amerika oder Asien im Mittelpunkt steht. Kartennetze mit gerundeten Meridianen, bei
denen solche abweichenden Erdbilder nur durch Umzeichnen erreichbar sind (wie bei
Mollweide und Aitoff) (Karten 34, 35,
36, 37) verstärken den falschen Eindruck einer Geschlossenheit des
herkömmlichen Kartenbildes. Ihre Gegenüberstellung mit einem anderen, dann notwendig als
fremd empfundenen Kartenbilde verstellt den Blick für die Zusammengehörigkeit des
Erdenrunds und damit für die Zufälligkeit unseres eigenen Kartenschnitts.
Transparenz ist die große und berechtigte Forderung unserer Zeit. Was geschieht, soll
durchschaubar sein. Das bedeutet für die Erdkarte:
8. Eindeutigkeit der Projektion
Diese Forderung wird durch die Absolutsetzung einer der beiden nicht zu vereinbarenden
Grund-Qualitäten verwirklicht. Die absolute Winkeltreue der Erdkarte von Mercator, für
deren Realisierung er größte Mängel in Kauf nahm, stellte einen Wert dar, der in dem
auf Schiffahrt beruhenden Zeitalter der Entdeckungen jedermann unmittelbar einsichtig war.
Heute, im Zeitalter der Wissenschaft, ist der objektive Charakter eines auf
Proportionalität beruhenden paritätischen Weltbildes entscheidend. Daß er auf absoluter
Flächentreue beruht, kann allgemein einsichtig gemacht werden.
9. Verbindlichkeit des Maßstabs
für die ganze Kartenfläche ist eine erstrebenswerte Qualität auch für eine Erdkarte.
Die Angabe eines Entfernungsmaßstabs (wie etwa bei Hallwag 1:33 Millionen oder bei
Kümmerly & Frey 1:32 Millionen) ist irreführend, weil der Eindruck einer festen
Beziehung der Entfernungen auf der Karte zu den Entfernungen auf der Erde selbst erweckt
wird. Eine solche durchgehende Beziehung kann es aber nicht geben, weil Entfernungstreue
(neben Formtreue) zu den Eigenschaften gehört, die auf einer Erdkarte nicht erreichbar
sind. Und wenn auf einigen anderen Erdkarten "Äquatorialmaßstab" vermerkt ist
oder komplizierte Umrechnungsdiagramme beigegeben sind (die doch nur für den seltenen
Sonderfall einer rein waagerechten Streckenmessung auf einer bestimmten Polhöhe
angewendet werden können), wird dadurch der irreführende Eindruck der Möglichkeit einer
Entfernungs-Umrechnung kaum abgemildert. Da mithin Entfernungsmaßstäbe auf Erdkarten
nicht für die ganze Karte verbindlich sein können, sollten sie vermieden werden.
Andererseits besteht aber beim Benutzer einer Erdkarte der Wunsch, die Größe der
betrachteten Länder oder Erdteile wechselseitig zu vergleichen und sie in Beziehung zur
Größe der Erde zu setzen. Diesem Bedürfnis kann durch Angabe eines Flächenmaßstabes
entsprochen werden, weil Flächentreue - im Gegensatz zur Entfernungstreue - eine
Kartenqualität ist, die auf der ganzen Karte verwirklicht werden kann. Die Angabe eines
verbindlichen Flächenmaßstabs weist zudem den Kartenbenutzer darauf hin, daß ein
unmittelbarer Flächenvergleich über die ganze Karte hin möglich ist.
Unser Katalog umfaßt nun 9 Qualitäten, die man von einer Erdkarte unserer Zeit fordern
muß. Sie alle sind miteinander vereinbar, ihre vollständige Verwirklichung also
möglich.
Der Gebrauchswert einer Erdkarte ist aber noch davon abhängig, in welchem Maße drei
weitere Qualitäten verwirklicht sind, die im Gegensatz zu den ersten 9 Qualitäten nur
graduell realisiert werden können:
10. Gleichmäßigkeit der Fehlerverteilung
Wie bei einem Geleitzug das Tempo nicht von der durchschnittlichen Geschwindigkeit aller
Schiffe, sondern vom langsamsten Schiff bestimmt wird, hängt der Gebrauchswert einer
Erdkarte weniger von ihrem durchschnittlichen Verzerrungswert ab als von ihrer gröbsten,
praktisch in Erscheinung tretenden Verzerrung. Um diese gering zu halten, sind die auf
einer Erdkarte unvermeidbaren Fehler möglichst gleichmäßig über die ganze
Erdoberfläche zu verteilen. Die Verzerrung bewohnter Gebiete sollte 100 % nirgends
überschreiten.
Leider enthebt auch die beste Lösung dieser Aufgabe uns nicht der Notwendigkeit einer
Auswahl der Erdzonen, die auf der Karte am fehlerfreiesten wiedergegeben werden. Die
Forderung nach
11. Angepaßtheit der Abbildung
ist dann am sinnvollsten verwirklicht, wenn jene Gebiete der Erde am naturgetreuesten, und
also am fehlerfreiesten wiedergegeben sind, in denen die meisten Menschen wohnen, also die
gemäßigten Zonen. Damit ist dem alten geographischen Grundsatz entsprochen, daß eine
Verzerrung der wenig bewohnten Teile der Erdoberfläche (wie der Polarzonen) am ehesten
hingenommen werden kann; ebenso liegt darin aber auch die Erfüllung der
anthropogeographischen und sozialgeographischen Forderungen der Gegenwart.
Als letzte, aber nicht unwichtigste Qualität ist schließlich die
12. Klarheit des Kartenbildes
gefordert. Sie ist erfüllt, wenn kein Land der Erde und kein Kontinent durch extreme
Stauchung oder Zerrung deformiert und dadurch in seiner Gestalt unerkennbar wird.
Formverzerrungen sollten überhaupt nur in waagerechter und senkrechter Richtung
vorgenommen werden, weil die Klarheit des Kartenbildes auf diese Weise weniger
beeinträchtigt wird als durch Verzerrungen in schiefer Richtung. Die allgemeine
Überlegenheit des rechtschnittigen Gradnetzes findet im klareren Kartenbilde Ausdruck.
Indes: Diese 12 Forderungen aufzustellen ist leichter, als sie insgesamt in einer Karte
verwirklichen.
Ich überprüfte die mir zugänglichen Erdkarten nach meinem Katalog - und es zeigte sich,
daß keiner von ihnen mehr als 8 der geforderten 12 Qualitäten vereinigte (Karte 66). Damit schied die Möglichkeit aus,
durch Verbesserung eines der vorliegenden Kartennetze alle diese zwölf nach meiner
Meinung unverzichtbaren und einander nicht ausschließenden Qualitäten zu gewinnen. Hinzu
kam, daß einige dieser Qualitäten - obwohl grundsätzlich vereinbar - nicht unabhängig
voneinander sondern nur zusammen zu verwirklichen waren und aufeinander abgestimmt werden
mußten.
Andererseits war ich auch nach gründlichem Studium einiger Lehrbücher der Allgemeinen
Kartenkunde nicht imstande, durch Zurückführung der geforderten 12 Qualitäten auf ihre
mathematischen Grundlagen und deren Vereinigung in einer gemeinsamen Formel die
selbstgestellte Aufgabe zu lösen. Und so war ich nach einigen gescheiterten Versuchen
ziemlich ratlos.
Da kam mir der Zufall zu Hilfe. Ich beschäftigte mich gerade mit der Frage, warum die
Erde im Zeitalter der Dezimalrechnung nicht in 100 Grade geteilt ist, sondern in 360, und
warum der 0-Meridian ausgerechnet durch England geht. Meine Vermutung bestätigte sich,
daß ein Zusammenhang bestand zwischen diesem Umstand und der Tatsache, daß England in
der Epoche, da dies geschah, ein Viertel der Erde beherrschte, also in gewisser Weise
Mittelpunkt der damals auf koloniale Eroberungen orientierten Welt war. Und ich
überlegte, ob man diese seinerzeitige, ganz willkürliche Verlegung des 0-Meridians von
der Kanareninsel Ferro in den Londoner Vorort Greenwich nicht im Zuge der gebotenen
Überwindung des Europa-Zentrismus überprüfen müßte. Dabei war es von Wichtigkeit, ob
eine sich anbietende natürliche Linie für den 0-Meridian existierte, oder ob man nur
eine Willkür durch eine neue ersetzen könnte. Wie so oft war das "oder" in der
Fragestellung falsch: es gab keine (etwa den Polen und dem Äquator vergleichbare)
natürlich vorgegebene Längenlinie, aber es fand sich ein Ort, wo der 0-Meridian
entschieden besser aufgehoben wäre als in Greenwich: die Datumsgrenze.
Unglücklicherweise besteht sie augenblicklich aus einer mehrfach ausgebeulten
Nord-Süd-Achse, die für ihre die Erde zerteilende Funktion ziemlich ungeeignet ist - und
dorthin auch nur geriet, weil von Greenwich aus gerechnet der 180. Längengrad gerade an
diese Stelle fiel. Wenn aber der 0-Meridian (wie die dortige Sternwarte nach dem Zweiten
Weltkrieg) aus Greenwich fortverlegt würde, konnte die Datumsgrenze auf die für sie
gewiß beste Längenlinie gelegt werden, zu der hin sie sich durch zahlreiche Korrekturen
schon orientierte: In die Mitte der Beringstraße, wo sie praktisch keine bewohnten
Gebiete schneidet, was für die Datumsgrenze von Bedeutung ist. Und dann konnte diese
Linie zugleich den 0-Meridian bilden, von dem aus die Erde rundherum in 100 Teile geteilt
würde. Stellte man sodann dieser vertikalen Dezimalteilung eine ebensolche horizontale
gegenüber, indem man die Entfernung vom Nordpol zum Südpol in 100 gleiche Teile
zerlegte, so hatte man eine Dezimalteilung der Erdoberfläche in 10 000 Planrechtecke. Da
die Strecke von Pol zu Pol nur halb so weit ist wie der Weg rund um die Erde, mußten die
am Äquator gelegenen sphärischen Rechtecke doppelt so breit wie hoch sein. Ich zeichnete
das neue Netz und benannte die entstandenen Plan-Rechtecke rund um die Erde von
Beringstraße zu Beringstraße und von Pol zu Pol mit den Zahlen 1 bis 100. Dadurch fiel
die lästige Doppelbezeichnung nach nördlicher und südlicher Breite sowie nach
östlicher und westlicher Länge fort, und der Mensch gewann eine Chance, seine neuen
Längen- und Breitenfelder (wie ich sie nannte - im Unterschied zu den
bisherigen Längen- und Breitengraden) in ein einprägbares Verhältnis
zu seiner eigenen geographischen Lage zu bringen, um eine überschaubare Beziehung zur
Lage fremder Länder und Städte zu gewinnen. Obwohl die zunehmende Bedeutung der
dezimalen Neugrad-Teilung unserer Vermesser mich ermutigte, das neue Netz zu publizieren,
legte ich es dann doch unveröffentlicht beiseite, weil ich mir die Kraft nicht zutraute,
eine Umbenennung aller Greenwich-Daten durchzusetzen.
Als ich einige Wochen später wieder auf das neue Netz stieß, unternahm ich einen
Versuch, der nach Dutzenden vorhergegangener Versuche zur Gewinnung des idealen
Erdkarten-Netzes etwas Neues war: Ich verzerrte vorsätzlich und bewußt die
Äquatorialzone in dem gleichen Maße, wie auf Mercators Karte Mitteleuropa verzerrt war,
nämlich im Verhältnis 1:2, also um 100 Prozent.
Das geschah auf die einfachste, sich gleichsam selbst anbietende Weise, indem ich bei
meinem Dezimalgradnetz die Planrechtecke am Äquator quadrierte. Dann errichtete ich über
diesen ersten Planfeldern flächentreu die folgenden Rechtecke, indem ich Flächeninhalt
durch Basis teilte. So gewann ich durch die Hilfe des Zufalls, was ich durch systematische
Suche nicht hatte finden können, ein Erdbild, das alle meine 12 Forderungen erfüllte: (Karten 38, 39). Es war
absolut flächentreu, lagetreu und achstreu, es bildete die ganze Erde ab, seine
Proportionen lagen zwischen Goldenem Schnitt und DIN-Format, die Projektion war in ihrem
Konstruktionsprinzip unverwechselbar, der Karteninhalt war über die Kartenränder hinaus
leicht ergänzbar. Die Projektion war durch ihre Eigenschaften eindeutig bestimmt, der
Flächenmaßstab war für die ganze Kartenfläche verbindlich, die unvermeidlichen
Verzerrungen waren gleichmäßig auf vier Erdzonen verteilt und betrugen zwischen Äquator
und Polarkreis nirgends mehr als 100 Prozent, die gemäßigten Zonen waren praktisch
formtreu abgebildet und das Kartenbild war von großer Klarheit.
Als ich nun meine neue Karte betrachtete, kam mir das Gesicht unserer Erde doch recht
fremd vor (Karte 42).
Ein Vergleich mit den mir vorliegenden Erdkarten zeigte, daß sie keine Ähnlichkeit mit
irgendeiner früheren Karte hatte. Die drei ihr am nächsten kommenden Karten waren: die
Mercatorkarte wegen ihres harmonischen Formats und ihres klaren Kartenbildes (Karte 40); die von Agostini entwickelte neue
Erdkarte im Goldmann- Atlas wegen ihrer Formgebung der Kontinente (Karte
43) und die rechteckige Platt-Karte wegen ihrer gleichmäßigen
Verteilung der Verzerrungen (Karte 41). Aber
allen diesen Karten fehlte die wichtigste Eigenschaft meiner Karte: die Flächentreue. So
legte ich noch die beste flächentreue Erdkarte dazu: die Behrmann'sche
Schnittzylinderprojektion (Karte 44). Weil die Erde auf dieser Karte überhaupt keine
äußere Ähnlichkeit mit dem Erdbilde meiner Karte hatte, unternahm ich den Versuch,
flächentreue Schnittzylinderprojektionen zu entwerfen, die meiner Karte näherkamen.
Um die Aufgabe einzugrenzen, ging ich mit den längentreuen Parallelkreisen vom
Behrmann'schen 30. Breitenkreis im Fünferschritt voran, zeichnete also Karten mit
formiertem Parallel auf dem 35., 40., 45., 50. und 55. Breitenkreis (Karten 45, 46, 47, 48, 49).
Eine erste Prüfung ergab, daß die 35-Grad-Karte und die 55-Grad-Karte wegen ihres
unglücklichen Formats ausscheiden konnten. Nun konstruierte ich zunächst Karten für die
einzelnen Grade zwischen dem 40. und dem 45. Breitenkreis, und es zeigte sich, daß die
Gesamtqualität der Karte mit zunehmender Polhöhe des längentreuen Parallelkreises
anstieg (Karten 50, 51, 52, 53, 54,
55). Sodann schuf ich die entsprechenden Karten für die einzelnen Grade
zwischen dem 45. und dem 50. Breitenkreis, - und es zeigte sich, daß die Gesamtqualität
der Karte mit zunehmender Polhöhe abnahm (Karten
56, 57, 58, 59, 60, 61). So war die Erdkarte mit dem längentreuen
Breitenkreis auf dem 45. Grad als beste flächentreue Schnittzylinderprojektion ermittelt.
Ein Vergleich mit meiner ursprünglichen, aus dem Dezimalgradnetz sich ergebenden Erdkarte
zeigte, daß diese, auf einem ganz anderen Wege gewonnene Karte mit der
Schnittzylinderprojektion des 45. Breitenkreises praktisch deckungsgleich war (Karten
42, 55, 56). Und ich überlegte einen Augenblick, ob ich sie nicht mit diesem
neugeborenen Konstruktionsprinzip veröffentlichen sollte, das den Kartographen vertraut
war, statt sie mit der Hypothek eines neuen Gradnetzes zu befrachten.
Nicht nur der Umstand, daß ich meine "Dezimalkarte" (wie ich sie hier einmal im
Unterschied zu der besten von meinen Ihnen soeben vorgelegten Schnittzylinderprojektionen
nennen will) bereits 1967 durch einen Vortrag vor der Historischen und Geographischen
Klasse der Ungarischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht hatte, hielt mich davon
ab. Ich dachte an den endlosen Kartographenstreit über die Frage, ob vielleicht die Karte
mit dem längentreuen Parallel am 43. Grad (wegen ihrer besseren Darstellung
Zentral-Afrikas) vorzuziehen sei oder diejenige mit dem längentreuen Parallel am 46.
(wegen ihrer günstigeren Darstellung Skandinaviens). Da der Polarkreis praktisch die
Grenze der dauernden Bewohnbarkeit der Erde bildet und die bei meiner Karte für den
Äquator vorgegebene Verzerrung von 1:2 erst am Polarkreis wieder erreicht wird (dort
natürlich nicht in vertikaler, sondern in horizontaler Richtung), ist mit meiner
Dezimalkarte und also bei der ihr entsprechenden Schnittzylinderprojektion mit
längentreuem Parallel auf dem 45. Grad aber eine geradezu ideale Verteilung der
unvermeidlichen Verzerrungen gegeben. Jede Verschiebung des längentreuen Breitenkreises
vom 45. Breitenkreis fort in Richtung Äquator oder Pol könnte nur dazu führen, daß
entweder Ecuador, Kolumbien, Brasilien, Gabun, Kongo, Zaire, Uganda, Kenia, Somalia und
Indonesien stärkere Verzerrungen als 1:2 aufweisen würden oder aber Alaska, Kanada,
Grönland, Island, Norwegen, Schweden, Finnland und Sibirien. Die reale Chance einer neuen
verbindlichen Erdkarte könnte so verspielt werden.
Außerdem ist auch die Konstruktionsweise meiner Dezimalkarte noch einfacher als ihre
Erstellung in Gestalt einer flächentreuen Schnittzylinderprojektion mit längentreuem
Parallel auf dem 45. Breitenkreis.. Dennoch habe ich keine Bedenken, wenn Sie aus
praktischen Erwägungen - oder weil Ihnen diese Konstruktion vertraut ist - die letztere
Arbeitsweise bei der Erstellung meiner Erdkarte vorziehen. Ihre Abweichung vom Original
liegt innerhalb der Zeichengenauigkeit.
Sie hätten dann auch die Möglichkeit, nach dem gleichen Konstruktionsprinzip die
Einzelkarten zu zeichnen, wie sie in dem von mir vorbereiteten Atlas in einheitlicher
Konstruktionsweise enthalten sein werden, und wie sie sich auch für den allgemeinen
Gebrauch empfehlen. Statt der von mir auf der Grundlage des Dezimalgradnetzes entwickelten
Konstruktionsweise setzen Sie dann einfach denjenigen Breitenkreis als längentreuen
Parallel der rechtwinkligen Einzelkarte, den Sie durch Halbierung des längsten Meridians
Ihres Karten-Ausschnittes erhalten. Dann errichten Sie in den Schnittpunkten der Meridiane
rechtwinklige Senkrechte und bauen nach oben und unten die Planrechtecke flächentreu auf
die gleiche Weise wie bei der Erdkarte auf. Wenn der Kartenausschnitt den Äquator
überschreitet, bleibt bei der Konstruktion der kleinere Teil jenseits des Äquators
zunächst unberücksichtigt; er wird später durch Spiegelung des konstruierten Gradnetzes
angefügt (wobei ein zweiter längentreuer Analog-Parallel entsteht, wenn die
Meridianlänge jenseits des Äquators mehr als die Hälfte der Meridianlänge im
größeren Kartenteil ausmacht). So betrachtet wird die Erdkarte zum Spezialfall des
beschriebenen allgemeinen neuen Konstruktionsprinzips für die Erstellung flächentreuer,
lagetreuer und achstreuer Karten, das man vielleicht als 'Halbmesser-Projektion'
bezeichnen könnte.
Die hervorragende Formtreue der auf dieser Grundlage gezeichneten Länder- und
Kontinentkarten beweist, daß diese Halbmesser-Projektion prinzipiell zu einer
wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe der gerundeten Erdoberfläche gut geeignet ist. Damit ist
offenbar, daß die Verzerrungen der Äquatorialzone bei der Wiedergabe der ganzen Erde der
minimale Preis sind für die Vereinigung von Flächentreue, Achstreue und Lagetreue mit
den übrigen 9 Kartenqualitäten des Katalogs in einer Erdkarte (Karten 62, 63, 64, 65).
Abschließend möchte ich noch erläutern, warum ich die alte Farbgebung durch eine neue
ersetzt habe:
Als der deutsche Pädagoge Johann Hübner vor fast 300 Jahren in seinen Schulatlanten
ganze Staaten in einheitlicher Farbe darbot, war dies ein großer Fortschritt gegenüber
einer Kartographie, die jedes Herzogtum und jede Provinz noch mit einer eigenen Farbe zur
Anschauung brachte. Aber diese Einfärbung der politischen Erdkarte nach Staaten führte
dazu, daß die ganze außereuropäische, von Europa kolonisierte Welt in den Farben ihrer
europäischen Mutterländer dargestellt wurde. Dies war gewiß zweckmäßig und von
innerer Folgerichtigkeit im Zeitalter der Europäisierung der Erde. Im nach-kolonialen
Zeitalter stellt es einen unhaltbaren Anachronismus dar. Soll Australien, Indien und
Kanada auf ewige Zeiten mit dem englischen Rot eingefärbt werden, nur weil diese Länder
einmal von Großbritannien erobert worden waren und in der Vergangenheit einige Zeit unter
britischer Herrschaft standen?
Mit der von mir intendierten Überwindung des europa-zentrischen geographischen Weltbildes
war solche Farbgebung nicht zu vereinbaren. So versuchte ich zunächst, wie andere
Kartenhersteller, eine von diesem Schema abweichende Bunt-Einfärbung. Aber alle diese
Entwürfe hatten etwas Willkürliches, so daß die so entstandenen Karten in der
Farbgebung der Hübnerschen, bis auf den heutigen Tag gebräuchlichen, unterlegen waren,
weil den Farben nun kein Sinn mehr innewohnte.
Es kam also darauf an, aus den Motiven heraus, die Hübner dazu geführt hatten, eine für
die ganze Epoche der Europäisierung der Erde gültige Farbgebung zu schaffen, nun eine
unserer eigenen Epoche entsprechende Einfärbung zu entwickeln. Es mag sein, daß ich
unserer Zeit ein wenig vorausgeeilt bin, wenn ich jenseits eines nicht zu übersehenden
neuen Nationalismus in der Farbgebung eine Welt konzipiert habe, die nationale
Unterschiede nicht mehr sehr wichtig nimmt, und die sich statt dessen auf ihre
natürlichen geographischen Gegebenheiten besinnt.
So habe ich jedem Erdteil eine Grundfarbe zugeordnet und die einzelnen Staaten nur noch in
Varianten dieser Grundfarbe dargestellt. Dabei sollte die farbliche Harmonie innerhalb der
Kontinente sich die Waage halten mit einer ausreichenden Farb-Trennung der Länder
untereinander.
Ich glaube, daß die neue Farbgebung auch ästhetisch der alten insgesamt nicht unterlegen
ist; sie macht das Bild der Erde ruhiger und bringt es dennoch in seiner Vielfalt zur
Anschauung. Gewählt habe ich diese Farbgebung aber allein aus inhaltlichen Gründen, wie
der ganzen Konstruktion meiner Erdkarte primär nicht mathematische, sondern inhaltliche
Überlegungen zugrunde liegen.
Die 60 Globusbilder im Kartenrand sollen dem Betrachter bewußt machen, daß auch meine
Karte die Erde nicht verzerrungsfrei wiedergeben kann, - sie sollen die unvermeidlichen
Verzerrungen einer Erdkarte durch weniger verzerrte Teilansichten der Erde korrigieren und
sie sollen ein wenig von der Anschau-Poesie alter Karten bewahren.
Denn: Die Erfassung unserer Erde und ihre zeitgemäße Wiedergabe auf einem Kartenblatt,
Ausdruck und prägende Grundlage unseres Weltbildes, ist nicht ein einfaches
Rechenexempel, sondern eine geistige Aufgabe, die, unter Beachtung mathematischer und
ästhetischer Erfordernisse, aber auch historisch-politisch-sozialer Überlegungen für
unsere Epoche zu lösen war. Mögen Sie das Ergebnis meiner Arbeit mit Gunst aufnehmen und
so zur Heraufführung eines neuen geographischen Weltbildes beitragen - oder besser: Ich
hoffe, daß Sie nach Überwindung der ersten Fremdheit sich mit meiner Erdkarte wie mit
dem ihr zugrundeliegenden allgemeinen Konstruktionsprinzip flächentreuer, lagetreuer und
achstreuer Karten befreunden und sie für Ihre Zwecke nutzen.
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Datum der letzten Aktualisierung: 16. Februar 2001