Der Medienforscher
Die geographischen und kartographischen Qualitäten der Peters-Karte sind von den
zuständigen Fachleuten bereits gründlich untersucht und in eigenen Gutachten beschrieben
worden. Dieses Gutachten befaßt sich vor allem mit der Brauchbarkeit und dem Wert der
Peters-Karte für die Nachrichtensendungen des Fernsehens, die eine spezifische
Stellungnahme erfordern.
Da es unmöglich ist, die Oberfläche der Erdkugel unverzerrt auf ein zweidimensionales
Blatt zu übertragen, enthält jede kartographische Darstellung der Erde notwendig
Formverzerrungen. Es stellt sich nun die Frage, ob und gegebenenfalls weshalb die
Peters-Karte für die Zwecke und Absichten des Fernsehens geeigneter ist als alle anderen
Karten.
Erfordernisse der Fernsehnachrichten
Der Nachrichtendienst des Fernsehens sucht nicht nur den Zuschauer über das Weltgeschehen
zu informieren, sondern es ihm auch nahezubringen und verständlich zu machen. Wenn der
mündige Bürger an der Bestimmung seines eigenen Schicksals mitwirken soll, muß er die
einzelnen Nachrichten in ihren Zusammenhängen mit der Welt und ihren Konflikten erkennen
und verstehen. Das Fernsehen kann ihm dazu verhelfen, wenn es Ereignisse in einen Rahmen
stellt, der dynamische Kräfte anschaulich macht, wechselseitige Beziehungen und
Spannungen zum Ausdruck bringt. Soweit dieser Rahmen ein geographischer ist, müssen
Landkarten über den Standort von Ländern und Orten hinaus jene Zusammenhänge und
Bewegungen veranschaulichen, die das Geschehen wesentlich beeinflussen. Entscheidend für
jede geographische Erscheinung (Land, Staat, Kontinent, Meer) ist ihre Größe. Deshalb
ist das Ringen um die Wiedergabe der geographischen Flächen unerläßlich. Die
Peters-Karte hat wegen ihrer absoluten Flächentreue besondere Bedeutung. Denn die
mangelnde Flächentreue der Mercator-Karte sowie der ihr Weltbild fortschreibenden van der
Grinten-Karte des Fernsehens und der Winkel-Karte vieler Schulatlanten ist ein Hindernis
bei dem Versuch, die relative Bedeutung verschiedener Teile der Welt zu veranschaulichen.
Fernsehnachrichten stützen sich vor allem auf zwei Formen der Berichterstattung: Den
fotografischen Bericht (Film oder Video) und den mündlichen Bericht des Sprechers. Der
erstere ist unvermeidlich auf die Wiedergabe einzelner Ereignisse beschränkt, während es
dem letzteren an jeder bildhaften Anschauung mangelt, die charakteristisch für das
Fernsehen sein sollte. Als dritte Ausdrucksform hat die Graphik eine besondere Bedeutung.
Sie kann in ihrer Symbolsprache Zusammenhänge bildlich darstellen. Die Landkarte ist eine
der wesentlichsten Formen dieser graphischen Darstellungsweise des Fernsehens,
vorausgesetzt, daß sie diese Zusammenhänge so getreu wie möglich widerspiegelt.
Die dynamischen Schwerpunkte des Weltgeschehens haben sich in den letzten fünfzig Jahren
vervielfältigt und grundsätzlich verschoben. Es ist damit Aufgabe des Fernsehens
geworden, dem deutschen und europäischen Zuschauer die wirklichen geographischen
Standorte und Beziehungen des Zeitgeschehens deutlich zu machen, vor allem das neue
Nord-Süd Verhältnis. Das bedeutet eine Abkehr von dem auf die nördliche Halbkugel
zentrierten Weltbild und eine neue Sicht, die auch die Länder anderer Erdteile,
insbesondere die Länder der südlichen Halbkugel, gleichrangig einbezieht. Nur auf diese
Weise kann dem Europäer nahegebracht werden, wie die Welt vom Blickpunkt jener Länder
und Kräfte her aussieht, die nun seine Partner oder seine unmittelbaren Gegenspieler im
Ringen um eine friedliche menschliche Zukunft geworden sind.
Die Mercator-Karte wie die van der Grinten-Karte und die Winkel-Karte und alle anderen
nicht flächentreuen Karten stellen Europa in das Zentrum und begünstigen durch ihre
vergrößerte Abbildung die nördliche Halbkugel, insbesondere die vom weißen Manne
bewohnten Länder der Erde. Dadurch sind sie für das Fernsehen in unserer Epoche völlig
unbrauchbar geworden. Neue kartographische Wege sind notwendig, eine neue kartographische
Ehrlichkeit ist gefordert, um den Aufgaben des Fernsehens in unserer Zeit gerecht zu
werden.
Die Nachrichtenübermittlung durch das Fernsehen beruht auf zwei praktischen
Gegebenheiten, denen die Visualisierung des Geschehens soweit als möglich Rechnung tragen
muß: Das Fließende, ja Flüchtige des Bildes, das vom Zuschauer unmittelbar aufgenommen
und verstanden werden soll (im Gegensatz zum gedruckten Text, der langsam und wiederholt
gelesen werden kann), sowie die rechteckige Form des Bildes, die durch das Fernsehgerät
vorgegeben ist. Jede kartographische Darstellung muß sich diesen Gegebenheiten anpassen.
Sie darf bei aller Treue der Wiedergabe deshalb nicht allzuweit von den herkömmlichen
geographischen Formen abweichen, damit sich der
Zuschauer schnell genug zurechtfindet. Auch muß sie die vier Himmelsrichtungen
wirklichkeitsgetreu wiedergeben, Nord-Süd Achse und Ost-West Achse müssen also
rechteckig zueinander stehen. Die Peters-Karte erfüllt diese Bedingungen besser als
andere Projektionen.
Auch der Peters-Karte konnte es nicht gelingen den Kugelmantel der Erde unverzerrt auf
eine rechteckige, flache Karte zu übertragen. Aber die Peters-Karte gibt jene
geographischen Grundgegebenheiten treu wieder, die für das Verstehen des Zeitgeschehens
im Fernsehen wesentlich sind: Alle Areale sind exakt wiedergegeben und die für eine
schnelle Orientierung so wichtige Nord-Süd Richtung ist erhalten; auch stehen alle Orte
gleicher Klimalage auf einer parallel zum Äquator verlaufenden Geraden. Und die
Peters-Karte hat die bei einer Erdkarte mit diesen Qualitäten unerläßlichen
Verzerrungen minimiert.
Die Peters-Karte ähnelt der Vorstellung des schulgebildeten Erwachsenen genügend, um von
ihm mit ausreichender Schnelligkeit eindeutig erkannt zu werden. So stört ihre neue
Formgebung der Kontinente nicht die unmittelbare Wahrnehmung und wirkt dabei durch ihre
Andersartigkeit zugleich bewußtseinsbildend im Sinne einer neuen, die Länder der Dritten
Welt gleichberechtigt einbeziehenden Weltanschauung. Auch ihre durch die
Rechtschnittigkeit ihres Gradnetzes gegebene rechteckige Form macht die Peters-Karte (die
in ihren Abmessungen genau auf den Bildschirm paßt) der jetzt vom Fernsehen verwendeten
van der Grinten-Karte (deren Meridiane gerundet sind) überlegen.
Fernsehen und Schulbildung
Es bleibt der Einwand, daß es nicht Aufgabe des Fernsehens, sondern der Schule sei, das
geographische Weltbild des Menschen zu formen. Das bedeutet: Solange die Schule sich nicht
von der herkömmlichen Projektion abgewandt hat, sei es dem Fernsehen nicht gestattet, mit
einem neuen Modell an das Publikum heranzutreten. Dieses Argument verkennt jedoch das
Wesen und die gesellschaftliche Aufgabe des Fernsehens.
Das Schulsystem stützt sich auf vier Pfeiler: Die Lehrer, einen festgelegten Lehrplan,
vorgeschriebene Examina und anerkannte Lehrbücher. Inhalt und Methodik des Unterrichts
können nur dann durchgehend geändert werden, wenn sie alle vier auf diese Wandlung
vorbereitet und eingestellt sind. Es gibt im Schulwesen auch immer wesentliche
Pionierinitiativen, so wurde die Peters-Karte bereits in tausenden von deutschen Schulen
eingeführt. Aber die Generalisierung solcher Initiativen kann nur langsam erfolgen. Der
Wandlungsprozeß im Unterricht ist schwerfällig und läuft meist der Entwicklung nach.
Dem Fernsehen dagegen ist gerade eine große Anpassungsfähigkeit an das Zeitgeschehen zu
eigen, an kulturelle Tendenzen, sogar an Modeströmungen. Das Fernsehen würde erstarren,
wenn es sich der Langsamkeit des Prozesses der Erneuerung und Wandlung unterwerfen würde,
der für unser Schulsystem charakteristisch ist. Der Inhalt des Unterrichts ist allein
akademisch bestimmt, die Fernsehnachrichten aber orientieren sich darüber hinaus am
Zeitgeschehen, am Zeitgeist.
Hinzu kommt, daß die Schule sich an Menschen wendet, die im Rahmen der Schulpflicht
gezwungen sind, am Unterricht teilzunehmen und sich auf festgelegte Examina vorzubereiten.
Das Fernsehen dagegen wendet sich an ein freiwilliges Publikum, an "non captive
Zuschauer, deren Interesse immer neu geweckt werden muß, damit es die Sendungen
überhaupt ansieht und begreift. Für das Fernsehen ist deshalb bedeutend mehr Freiheit
erlaubt und geboten, um seine Sendungen anziehender und lebendiger zu gestalten, als dies
für das Schulsystem nötig oder auch nur zulässig wäre. Der gleiche Gegenstand wird
deshalb vom Fernsehen und von der Schule notwendig ganz verschieden dargeboten. Für das
Fernsehen würde es den Verzicht auf die ihm eigene schöpferische Phantasie und Freiheit,
also eine Selbstverleugnung bedeuten, wenn es sich darauf beschränken würde,
Unterrichtung und Bildung in der Weise darzubieten, wie es die Schule tut.
Da die Peters-Karte dem Weltbild unserer nachkolonialen Epoche allein entspricht und sich
dabei noch für die besondere Gegebenheiten des Fernsehens eignet, wäre es widersinnig,
wenn das Fernsehen nur deshalb auf sie verzichten würde, weil sie sich in der Schule noch
nicht vollständig durchgesetzt hat.
Unterschrift
(Professor Dr. Henry R. Cassirer)
Mitbegründer und langjähriger Direktor
der Abteilung Massenmedien und Bildung
der UNESCO
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Datum der letzten Aktualisierung: 25. Januar 2001